Kopfloser Sommer - Roman
schon. Wir wissen genau, wer du bist.«
Der junge Mann sieht Jacob an und beginnt, überraschend laut und lange zu lachen. Mutter und ich stimmen ein, aber eher aus Höflichkeit. Jacob wartet geduldig, bis wir uns wieder beruhigt haben.
»Er hat vor meinem Fenster gestanden und hineingesehen! Er stammt aus deinem Bild, Emilie, siehst du das denn nicht?«
Ich schüttele entschieden den Kopf, weil er jetzt wieder mit diesem blöden Gequassel anfängt. Es ist extrem peinlich, und ich will damit nichts zu tun haben.
»Du bist müde, Jacob«, sagt Mutter, nimmt ihn in den Arm und streicht ihm übers Haar. Auch sie findet, dass es jetzt genug ist. »Es ist bloß ein Mann, der in unseren Garten gekommen ist, weil er als Kind hier gewohnt hat. Er ist nicht gefährlich, er tut uns nichts.«
»Woher weißt du das?«, fragt Jacob und sieht Mutter an, ohne zu blinzeln.
Wieder lachen wir. Mutter seufzt und wendet sich an mich, ob ich nicht so nett sein könnte, Jacob ins Bett zu bringen. Es wundert mich überhaupt nicht. Und wenn sie in diesem Tonfall fragt, gibt es auch nichts zu diskutieren. Jetzt werde ich wieder weggeschickt, gerade jetzt, wo es richtig spannend wird.
Ich habe ihn heute Abend schon einmal ins Bett gebracht, Mama, jetzt bist du dran, würde ich gern sagen und einfach sitzenbleiben. Denn natürlich möchte ich wissen, warum unser Gast geweint hat. Vielleicht erfahre ich, was in seiner Kindheit passiert ist. Aber das ist Wunschdenken, und wie gewöhnlich tue ich, was mir gesagt wird. Ich nehme Jacob bei der Hand und bringe ihn in sein Zimmer; er redet noch immer von Köpfen, schwankenden Büschen und Fensterguckern. Ich muss lachen, mache mir aber gleichzeitig ernsthaft Sorgen, denn was er sagt, ist derartig abwegig, dass ich ihm drohe, ihm nichts vorzulesen, wenn er nicht damit aufhört. Es hilft. Er kriecht unter die Decke und ich lese ihm aus Grimms Märchen vor. Es ist nicht gerade sein Lieblingsbuch, aber ein Geburtstagsgeschenk von mir. Ein bisschen Spaß will ich schließlich auch haben. Aber ich möchte vermeiden, dass er noch einmal aus einem Albtraum erwacht, es ist ohnehin genug passiert an diesem Abend. Daher überspringe ich die besonders unheimlichen Stellen und beschönige das Ende ein wenig. Wenn es sein muss, kann ich so etwas auch, allerdings ist es mir andersherum lieber.
Schließlich werden die Augen meines Bruders kleiner und er schläft ein. Er sieht so lieb aus, wenn er schläft, mit dem blonden Haar über den Augen und seinem Teddy im Arm. Ich vergesse, wie sehr er mich manchmal nervt, und küsse ihn vorsichtig auf die Wange. Dann gehe ich in den Flur.
Obwohl die Türen geschlossen sind, höre ich die Stimmender Erwachsenen, sie müssen ins Wohnzimmer gegangen sein. Sie klingen ernst, zwischen den Sätzen gibt es lange Pausen. Ich ärgere mich, denn bestimmt habe ich etwas verpasst. Ich bleibe einen Moment stehen und horche.
»Das ist ja schrecklich«, höre ich Mutter sagen.
»Mir geht es jetzt besser«, entgegnet er.
Und dann wieder eine lange Pause. Ich sterbe vor Neugier und will wissen, was so schrecklich gewesen ist. Aber wenn ich jetzt hineingehe, wechseln sie bestimmt das Thema, darum bleibe ich noch eine Weile vor der Tür stehen und lausche.
»So etwas kannst du nicht allein schaffen«, erklärt Mutter. »Es sei denn, du sprichst mit jemandem darüber.«
Niemand klingt so nach Psychologe wie Mutter, ohne dass sie ein Psychologe wäre.
Schließlich halte ich es nicht länger aus, gehe ins Wohnzimmer und setze mich aufs Sofa. Und natürlich stockt das Gespräch sofort. Ich gähne laut und vernehmlich, schalte den Fernseher ein und zappe zwischen einem Krimi und einer Liebesgeschichte hin und her. Ich kann keinen Unterschied erkennen. Endlich bricht Mutter das Schweigen.
»Und das Haus und der Garten sehen noch so aus wie damals, als du hier gewohnt hast?«
»Das Haus schon, allerdings war es anders eingerichtet«, antwortet er und macht eine lange Pause.
»Und der Garten?«
»Na ja, der ist nicht mehr ganz so, wie er mal war. Mein Vater hat sich in seiner Freizeit ausschließlich um den Garten gekümmert, er ist darin aufgegangen. Und ich habe ihm geholfen, seit ich klein war; wenn er die Hecke schnitt, habe ich die Zweige in einer Schubkarre weggefahren. Und am Wochenende standen häufig Leute auf dem Bürgersteig undguckten hinein; es hieß, unser Garten sähe aus wie ein kleiner Park. Das ist kein Park, hat mein Vater dann immer gesagt, das ist das verlorene
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