KOR (German Edition)
verstanden hatten. Die zunächst unbekannten Objekte ließen sich stets in drei Kategorien einteilen: pflanzlich, tierisch, künstlich. Die künstlichen Objekte entpuppten sich meistens als Artefakte, als rituelle Gegenstände oder Teile mysteriöser Skulpturen, die auf unbekannte, seit Jahrtausenden ausg e storbene Völker verwiesen. Dies wiederum setzte Archäologen und Histor i ker in Bewegung, die alte Schriftrollen und in Stein gemeißelte Texte anal y sierten, um im besten Fall Hinweise auf diese vergessenen Kulturen zu entd e cken. Doch was Chad hier vor sich sah, konnte er in keine der gängigen K a tegorien einteilen. Das Objekt besaß eine pflanzliche Stru k tur. Aus näherer Perspektive verlieh ihm die schuppenähnliche Rinde etwas Animalisches. Die Steine, die es umgaben, deuteten andererseits auf einen mysteriösen Kultplatz hin.
Yui wurde weiterhin von Schüttelfrost durchbeutelt. Immerhin gelang es ihr inzwischen, den Deckel der Thermoskanne so zu halten, dass sie den Inhalt nicht verschüttete. Trotz Maggies Bedenken stand sie auf und humpe l te auf das ungewöhnliche Ding zu. An den Zwischenfall mit Norton schien sie überhaupt nicht mehr zu denken.
Chad begleitete sie, auch wenn er sich um ihren Zustand Sorgen machte. „Hast du eine Idee, was das sein könnte?“
„Ein Kultplatz“, lautete ihre knappe Antwort.
„Das ist auch meine erste Einschätzung gewesen. Aber von wem? Welche Kultur lebte hier?“
„Es handelt sich vielleicht um eine Naturreligion“, meinte Yui. „Das O b jekt wurde angebetet.“
„Wenn du r echt hast, müsste dieses Ding tatsächlich ein Baum oder irgen d eine andere Pflanze sein.“
„Wie wäre es mit einer Art Parasit?“ Simon schaute kurz von der Wärm e bildkamera auf.
„Wie kommen Sie darauf?“, fragte Chad .
„Es ist nur eine grobe Annahme. Keine Ahnung, was das ist. Die Äste sind zu weit oben, sodass man sie nicht ohne Leiter berühren kann. Unten bei den Steinen bin ich noch nicht gewesen. Das Ding fällt auf der Wärmebildkamera nicht auf.“
„Aber wieso Parasit?“, griff Yui Simons These auf. „Sie denken, die Äste könnten auch so etwas wie Fühler sein?“
„Na ja, die Aussage bezog sich auf meinen ersten Eindruck. Für mich sieht dieses Ding aus wie eine Art Wurm, der sich am Boden festgesaugt hat, wä h rend er mit seinen Tentakeln nach Nahrung im Wasser sucht.“
Chad schnippte mit den Fingern. „Dieses fremdartige Ding könnte ein u r zeitliches Fossil sein, das von einem Volk angebetet wurde. Durch die Gla u bensvorstellungen könnte es für das hypothetische Volk zu einer Art Totem geworden sein.“
„Von Totems gehen spirituelle Kräfte aus“, wandte Yui ein. „Für welche Kräfte oder Eigenschaften könnte dieses Objekt stehen? Wenn es in den Glauben des Volkes integriert wurde, muss diese Kraft eine bestimmte Fun k tion gehabt haben. Totems sind Kategorien. Jedes Totem lässt sich ei n teilen in Unterkategorien. Alles zusammen ergibt ein religiös geprägtes Wel t bild.“
Simon wandte sich von der Wärmebildkamera ab. „Sie meinen so etwas wie Yin und Yang?“
„Yin und Yang. Gut und Böse. Männlich und weiblich. Das sind die Grundkategorien. Sämtliche Totems teilen sich in diese Gegensätze auf.“
„Die Frage ist nur, zu welcher Hauptkategorie dieses Ding zählen würde“, überlegte Chad .
„Böse.“ Neben ihnen stand Julia Whitehead. Er hatte nicht bemerkt, dass sie sich ihnen genähert hatte. Ihre Miene verriet eine tiefe Nachden k lichkeit. Während sie das Objekt anstarrte, als könnte sie in sein innerstes Geheimnis vordringen, wiederholte sie: „Böse.“
Chad und Yui wechselten skeptische Blicke. „Böse?“, fragte er. „Wie ko m men Sie darauf?“
Julia sah ihm direkt in die Augen. „Mein Vater. In derselben Nachricht, in der er den Code erwähnte, mit dem man das Tor öffnen kann, teilte er mir mit, dass in der Station sonderbare Dinge vorgehen.“
Offenbar befand sich Julia soeben in einer ihrer kooperativen Phasen. Chad dachte an nichts anders, als daran, weitere Informationen aus ihr herauszuh o len, die für die Untersuchung wichtig sein konnten. „Er brachte die Zw i schenfälle in Zusammenhang mit diesem Objekt?“
„Er sprach nicht nur von Zwischenfällen. Er erwähnte, dass dieses Ding ihn und seine Mannschaft beeinflussen würde. Er hatte sichtlich Angst d a vor.“
„Beschrieb er, um was für Ereignisse es sich handelte?“
„Nein.“
„Erwähnte er sonst noch
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