Kornmond und Dattelwein
Jahren schon sind Hut keine Opfer mehr dargebracht worden«, zischte die Hohepriesterin. »Die Dunkle hat Hunger, versteht Ihr, also hat Sie uns Ihren Hunger geschickt. Wir müssen endlich beginnen, Sie wieder zu füttern, bevor es zu spät ist!«
Inanna dachte an Alna und die Prophezeiung. »Nein!« Sie riß sich von Rhetis Griff los. »Keine Menschenopfer. Sollte ich auch nur von einem einzigen Opfer hören, schicke ich meine Soldaten in den Tempel. Hast du verstanden?«
»Gut«, sagte Rheti und lächelte wie eine Irrsinnige. Sie fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und wischte die Asche fort.
»Was meintest du?«
»Ich sagte gut. Dann bekommt Hut die ganze Stadt.« Sie stolperte blind im Kreis herum und fuchtelte mit den Armen durch die Luft, als führe sie einen Tanz auf. Plötzlich ließ sie sich wieder vor dem Feuer nieder. »Warum lassen wir Hut nicht selbst entscheiden?« sagte sie und stocherte in der Asche herum.
»Wie bitte?«
»Das Opfer ohne Opfer. Der Nichttod-Tod.« Rheti sah mit ihren blinden Augen auf Inanna und legte den Kopf etwas schief.
Jetzt reicht es mir endgültig, sagte sich Inanna. Entweder ist sie so von ihrer Göttin besessen, wie sie vorgibt, oder sie hält mich hier zum Narren. Sie sah auf das Leichenfeuer, auf die Lant und schließlich auf Rheti. Dann zog sie das Messer aus dem Gürtel, ging zu der Hohepriesterin und hielt ihr die Klinge an die Kehle. Hinter ihr keuchte die Lant, aber Inanna achtete nicht auf sie. »Hör auf damit, in Rätseln zu sprechen«, sagte sie ganz ruhig. »Sag mir sofort, wie der Fluch ohne Menschenopfer von der Stadt gehoben werden kann, oder bei allem, was mir heilig ist, ich bringe dich auf der Stelle um.«
»Hut soll entscheiden«, sagte Rheti rasch. Ihre Stimme klang nun wie die einer geistig Gesunden. Sie hockte ganz ruhig und stocksteif da. »Drei Tage lang soll Sie alle Fremden bekommen, die in die Stadt wollen.« Inannas Hand zuckte, und Rheti fuhr zurück. »Nein, nicht so hastig, Ihr versteht nicht. Wenn Hut auf Menschenopfern besteht, kann sie so viele Fremde zur Stadt kommen lassen, wie sie möchte. Aber wenn in diesem Zeitraum niemand kommt, so zeigt uns das auch Ihren Willen. Dann haben wir Ihr ausreichend geopfert, und der Fluch ist von der Stadt gehoben. Dies ist ein uralter Brauch, ein Gottesurteil. Viele Generationen vor uns haben das schon praktiziert, seit Urzeiten.«
Inanna dachte an die Flüchtlinge, die seit den Einfällen der Wilden in die Stadt strömten. Sie waren Fremde, aber die Vorstellung, auch nur einen von ihnen für Hut zum Tode verurteilen zu müssen, drohte ihr das Herz zu sprengen. Davon abgesehen verdächtigte sie Rheti, ein falsches Spiel mit ihr zu treiben. Warum sollte sie der Hohepriesterin trauen? Niemals würde sie das tun. Niemals.
Sie steckte das Messer wieder in den Gürtel. Die Konfusion wogte und stürmte durch ihre Gedanken. Und wenn Rheti nun recht hatte? Wenn Menschenopfer die einzige Möglichkeit waren, das Flußfieber zu beenden? Wie weit mochte Pulal schon vorgerückt sein? Schon halb über die Berge? Oder weiter? Im Frühjahr würde er vor den Stadtmauern stehen. Wenn bis dahin die Pest nicht vorüber war und sie keine neue Armee aufgebaut hatte, würde niemand mehr da sein, der ihren Bruder aufhalten konnte. Was waren schon ein paar Leben– ganz gleich, ob unschuldig oder nicht–im Vergleich zu dem Heerzug der Schwarzköpfigen und dem Schicksal der Stadt? Verflucht! Die alte Königin hätte sich gegen solche Opfer ausgesprochen. Je angestrengter Inanna darüber nachzudenken versuchte, desto verwirrter wurde sie.
Der Körper im Feuer war zu einem Haufen glühender Stückchen heruntergebrannt. Inanna starrte auf die Asche und fragte sich, wieviel ein Menschenleben wert war. Sie wußte nur, daß sie nichts wußte.
»Lyra.«
»Ja?«
»Ich möchte, daß du den Wachen an den Stadttoren sagst, während der nächsten drei Tage sollen sie alle Fremden, die in die Stadt wollen, sofort in den Tempel führen.«
»Warum soll ich einen solchen Befehl geben? Ich war der Ansicht, Ihr wolltet nichts mit dem Tempel zu tun haben. Warum also nun die Fremden dorthin bringen lassen?«
»Um der Göttin zu huldigen«, sagte Inanna rasch. Später wußte sie, warum sie in jenem Moment gelogen hatte: Weil sie sich schämte. Vor vier Tagen hatte sie einen Läufer in ein bestimmtes Dorf ausgesandt; einen gesunden Jungen ohne die geringsten Anzeichen des Flußfiebers. Er war mit der Nachricht zurückgekehrt,
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