Kornmond und Dattelwein
Haar. »Nun, in der letzten Nacht haben die Wächter einige Fremde in den Tempel gebracht. Ihr hattet recht. Sie haben uns Glück gebracht.« Mit einemmal war alles Schöne und Fröhliche aus diesem Tag entschwunden. Inanna starrte Lyra an und brachte eine ganze Weile lang keinen Ton hervor. Also hatten sie für den Regen doch einen hohen Preis bezahlen müssen. »Wie viele?« brachte sie endlich doch noch mit Mühe hervor.
»Wie viele was?« Lyra war verwirrt.
»Wie viele Fremde haben die Wächter letzte Nacht in den Tempel gebracht?«
»Hm, das weiß ich nicht. Ein halbes Dutzend, vielleicht auch mehr. Ich habe sie nicht gefragt.«
»Wer waren sie? Wo kamen sie her?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung, von wo sie gekommen sind. Ich erinnere mich dunkel, daß ein Wächter sagte, es handele sich bei ihnen um Flüchtlinge. Ja, denn Kinder waren auch darunter, und der Wächter wollte wissen, ob die Kinder ebenfalls in den Tempel gebracht werden sollten. Ich habe ja gesagt, denn ich dachte mir, wo die Eltern schon die ganze Nacht beschäftigt sein werden, können die Kinder doch gleich mit dorthin ...«
»Kinder waren darunter?« Inanna schnürte es die Kehle zu. »Nur zwei. Bruder und Schwester, glaube ich.«
Erst kurz vor der Tür zu ihren Gemächern begriff Inanna, daß sie die Halle verlassen hatte.
»Guten Morgen,
Muna«,
grüßte der Diener. »Ihr seid früh zurück.« Zwei Bündel lagen neben der Tür, eingepackt in nasses Leinen und mit leuchtenden orangefarbenen Stoffstreifen zusammengebunden. Inanna brauchte kein zweitesmal hinzusehen, um zu wissen, woher sie stammten. »Ein Eunuch der Hohepriesterin hat sie vor einer Weile gebracht,
Muna.«
Inanna fragte sich grimmig, welche neuen Schrecken die beiden Bündel enthalten mochten. Aber nachdem sie die Knoten gelöst und das Tuch zurückgefaltet hatte, entdeckte sie darin nur einige krude Kochtöpfe, einige Bettlaken, einen Vogel in einem zerbrochenen Weidenkäfig, etliche Vorratstaschen und einen leeren Wasserschlauch. Sie studierte die Gegenstände und fragte sich, warum Rheti sie ihr geschickt hatte. Dann begriff sie: Dies waren die Besitztümer der Menschenopfer, die die Hohepriesterin dem Palast gesandt hatte. Die Botschaft war eindeutig.
»Hallo«, sagte der Vogel, drehte den Kopf zur Seite und sah Inanna mit kleinen, perlartigen Augen an. Seine Zunge war gespalten, und Staub verklebte sein Gefieder. Wahrscheinlich war er durstig und hungrig. Inanna griff in einen der Säcke und warf ihn auf den Boden des Käfigs. Der Vogel pickte gierig danach.
»Bring diesem Vogel etwas Wasser. Dann nimmst du den Korb und hängst ihn über meinem Bett auf.«
»Warum?« fragte der Diener. »Er ist so schmutzig,
Muna.
Er besudelt Euch ja die ganze Einrichtung.«
»Ich habe für etwas einen hohen Preis bezahlen müssen«, erklärte die Königin. »Und den möchte ich nie vergessen.«
Am frühen Abend war vom schweren Regen nur ein Nieseln übriggeblieben. Es wurde kühler. Inanna trat auf den Balkon und genoß die Abendbrise, aber die brachte ihr keine Entspannung. Immer noch zog sich eine lange Reihe von Beerdigungsfeuern am Flußufer entlang. Wenn die Seuche nun doch nicht zum Erliegen kam, was würde Rheti dann – im Namen von Hut – als nächstes verlangen?
Wie viele Kinder würde Sie fordern...
»Da ist jemand, der Euch sprechen möchte, meine Königin.« Inanna drehte sich um und entdeckte an der Tür eine Dienerin in Verbeugung.
»Wer ist es denn?«
»Das weiß ich nicht. Er wollte es nicht sagen.« Was hatte das denn nun schon wieder zu bedeuten? Ohne Zweifel neuer Ärger. Inanna eilte ins Zimmer zurück und trocknete sich das Haar.
»Hallo«, rief der Vogel aus dem Käfig. Jemand hatte ihm weitere Körner hingestreut, und sein Gefieder sah bereits glänzender und glatter aus.
Ein halbes Dutzend, vielleicht auch mehr... Flüchtlinge . . .
Inanna wandte dem Käfig rasch den Rücken zu, öffnete einen Schrank und entnahm ihm ein gelbes Gewand. Sie war noch nicht soweit, daß sie über den Vogel intensiver nachdenken konnte und darüber, warum sie seinen Käfig über ihr Bett hatte hängen lassen. Inanna warf sich einen Umhang über und schob die Füße in trockene Sandalen. Später wollte sie darüber nachdenken, vielleicht heute nacht.
Im Empfangszimmer wartete ein Mann auf sie. Seine Rüstung war verschmutzt, der Federbusch auf seinem Helm naß und fransig und das Schuhwerk zerschlissen. Er stand mit dem Rücken zu ihr und sah hinaus auf
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