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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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solltet dies sehen.«
    Inanna war noch verwirrter als zuvor. »Wovon redest du eigentlich?« »Vom Tor.«
    »Was für ein Tor?«
    »Das in der Mauer,
Muna.
Die Hohepriesterin sagte, Ihr würdet es in naher Zukunft benutzen wollen.« »Ich sehe kein Tor.«
    Die Lant berührte einen großen Stein, und plötzlich schwang völlig geräuschlos ein großes Stück der Mauer zurück. Dahinter war der Blick frei auf das Flußufer. Die Lant lächelte und rieb sich leise die Hände. Ein kurzes, raschelndes Geräusch. »Ein geheimes Tor,
Muna,
das sich nur von innen öffnen läßt.«
    Der Fluß führte niedriges und trübes Wasser, und die Moskitos bissen in dieser Nacht besonders wild. Während Inanna um sich schlug, um die Insekten zu vertreiben, fragte sie sich, was es sonst noch in der Stadt geben mochte, von dem sie keine Ahnung hatte. Zur Rechten ergoß sich der Hauptabflußkanal in den Fluß. Der Gestank übertraf alles. Inanna trat vorsichtig hinaus und bemühte sich sehr, den Brechreiz zu bezwingen.
    »Bring mich zur Hohepriesterin, und von jetzt an ohne Umwege«, sagte sie barsch. Die Lant verfiel in einen Laufschritt, auch wenn sie immer wieder im Uferschlamm steckenblieb. Inanna folgte ihr, stolperte über angeschwemmtes Treibholz und achtete verzweifelt darauf, sich nirgends den Knöchel zu verstauchen. Ein Stück voraus glühten die Beerdigungsfeuer in der Nacht und sandten immer wieder Funkenregen in die Luft. Als sie das erste Feuer erreichten, machte Inanna dort eine Frau in einem weißen Umhang aus, die neben einem brennenden Leichnam saß und kleine Äste in die Flammen warf. Das Gesicht und die Haare waren von Asche verschmiert. Und an den blinden Augen erkannte sie Rheti.
    Die Hohepriesterin hob den Kopf, als sie die Schritte der beiden Frauen vernahm, und zeigte auf den brennenden Körper. »Seht, Königin, was eines Tages aus uns allen wird«, rief sie. Inanna sah, daß es sich bei dem Leichnam um eine junge Frau handelte. Der Körper zuckte und wand sich in der Hitze, als führe er einen makabren Tanz vor. Während Inanna schreckensstarr zusah, wurde das Fleisch in den Flammen schwarz und fiel von den Knochen. Die zierlichen Lider des Mädchens schrumpften zusammen, und die Augäpfel explodierten mit einem Plopp! Kochendes Blut sprudelte aus dem aufstehenden Mund. Der Gestank von verbranntem Fleisch erfüllte die Luft. Inanna mußte sich abwenden, so übel war ihr geworden. Sie hätte sich niemals aufmachen sollen, um Frieden mit dieser Wahnsinnigen zu schließen.
    »Nein, seht her«, krächzte Rheti und griff nach ihrem Arm. »Seht genau hin und begreift, was Ihr Eurem Volk angetan habt!« Eine kalte weiße Hand verkrallte sich in ihrem Ärmel. Inanna schüttelte sie ab. Die Berührung löste Widerwillen in ihr aus, der sich bald in Zorn verwandelte. Wolfsherz und Wolfskrallen. Es kostete sie ungeheure Beherrschung, sich nicht auf Rheti zu stürzen und ihr die Kehle aufzuschlitzen. Es gelang Inanna, die Hand vom Messer zu lösen und ruhig zu sprechen.
    »Du bist diejenige, die dies über die Stadt gebracht hat.« Inanna hörte den mühsam gebremsten Zorn aus ihrer Stimme heraus und wandte sich ab, weil sie nicht wußte, wie lange sie sich noch beherrschen konnte. Auf der anderen Seite des Flusses erhob sich ein Weidenwäldchen, und die dünne Sichel des Neumonds glitt über die Berge.
    »Nein, Königin, nicht ich.« Rheti stand auf und stützte sich auf die Schulter der Lant. »Der Fluch stammt von Hut, der Dunklen Göttin. Ich habe mit Ihr gesprochen, und Sie hat mir gesagt, Sie sei sehr wütend.« Rheti hob die Arme. Die Ärmel glitten zurück und legten unzählige rote Wunden frei. Inanna schauderte beim Anblick so vieler Schlangenbisse. Sie wußte, daß es besser wäre, auf der Stelle kehrt zu machen und zurück in den Palast zu eilen, aber irgend etwas hielt sie hier unerbittlich fest. Erst viel später, als es schon zu spät war, begriff sie, daß es Rheti selbst gewesen war, die sie hier festgehalten hatte. »Würdet Ihr gern wissen, warum Hut wütend ist?« fragte die Hohepriesterin.
    »Nein!«
    »Doch, das möchtet Ihr!« Ihre Stimme klang sonderbar dominierend. Sie kam vor und packte Inannas Handgelenke. Die Königin versuchte, sich zu befreien, aber Rheti ließ nicht locker. Ihre Finger waren wie Eis, und die Berührung ging Inanna durch Mark und Bein. Sie glaubte, spüren zu können, wie diese kalten Hände durch ihren Körper drangen und schließlich ihr Herz umklammerten. »Seit vielen

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