Kornmond und Dattelwein
Linie quer über seiner Kehle nicht gewesen wäre, hätte man annehmen können, er schliefe gerade. Inanna trat hinzu, sah auf den Knaben und wußte, daß sie, gleich zu welchem Ziel, etwas Unverzeihliches begangen hatte.
»Den habe ich noch nie zuvor gesehen«, sagte Seb grimmig. Inanna atmete tief ein.
»Bist du dir auch ganz sicher?«
»Ja.«
Seb riß so heftig die Tücher von den Leichnamen, daß sie wie große weiße Vögel in die Luft stiegen, um dann ganz langsam auf den Boden zurückzutreiben. Ein Mann in einem alten, braunen Umhang, eine Frau mit einem großen Muttermal auf der Wange. »Fremde«, sagte Seb, »nur Fremde.« Er trat an den vierten Körper und zog das Tuch fort. Das Rosengebinde rollte bis vor Inannas Füße. Sie hob es auf und trat langsam an Sebs Seite.
Der Tote trug einen groben Harnisch aus ungefärbtem Leder, und auf seinen Armen und Schultern waren viele Schnitte und Stiche. Der Schnitt an seiner Kehle verlief im Zickzack. Er mußte bis zum letzten Moment gegen die Priesterinnen angekämpft haben. Seb beugte sich hinab und schloß dem Mann sanft die Augen. »Den habe ich gekannt«, sagte er so leise, daß Inanna ihn nur mit Mühe verstehen konnte. »Er hieß Hansea und war der Zimmermann des Dorfes.«
Unter dem nächsten Tuch lag eine alte Frau, die ein feines, braunes Leinengewand in ländlicher Tracht trug. Ihr Haar war so schütter, daß darunter die rosafarbene Kopfhaut zu erkennen war, und ihre Wangen waren eingefallen. Seb brauchte ihr gar nicht zu erklären, wer das war. Die Tote war seine Base und sah aus wie eine ältere Version von Sellaki.
»Meine Base«, sagte Seb. Grimmig marschierte er an den anderen Leichnamen vorbei und blieb erst vor dem kleinsten Bündel stehen. Ohne ein Wort zu sagen, kniete er sich davor hin und zog langsam an dem Tuch.
Ein rotes Gewand, versehen mit goldenen Stickereien, und zwei kleine, schmutzige Füße. Alna lag friedlich auf dem Bauch. Ihr Gesicht wurde teilweise vom Haar bedeckt. Wie betäubt trat Inanna heran, setzte sich hin und fuhr lange mit ihren Fingern durch die feinen Kinderlocken.
Ich habe das getan, dachte sie.
Dann hob sie Alna hoch, drückte den kleinen, kalten Körper an sich und ließ ihren Tränen freien Lauf.
VI
»Rheti! Rheti! Wo bist du?«
»Sie ist fortgegangen,
Muna.«
Die Lant drückte sich voller Furcht gegen die Höhlenwand und starrte Inanna und die sechs Soldaten unentwegt an.
»Wohin ist sie gegangen?«
»Das weiß ich nicht.« Die Höhle war leer bis auf einen zerbrochenen Korb und einen Haufen schmutziger Lumpen. Inanna packte die Lant am Nacken und drückte ihr gleichzeitig die Spitze ihres Speeres an die Kehle.
»Sag es mir, Elende!«
»Die Hohepriesterin ging noch in derselben Nacht fort, in der die Opfer dargebracht wurden.« Die Augen der Lant waren schreckgeweitet, und sie konnte nur noch stottern. »Sie... sie hat nicht einmal ... nicht einmal ihren Wasserschlauch mitgenommen ... Sie sagte nur, sie ... wollte hinaus in die ... in die Wüste, um mit Hut zu sprechen.«
»Wohin in die Wüste?«
»Das weiß ich nicht. Ich schwöre, daß ich es nicht weiß.« »Ist sie allein gegangen?«
»Nein, ihr Eunuch begleitete sie.« Inanna bedachte die Lant mit einem verächtlichen Blick und stieß sie beiseite.
»Tötet sie«, befahl sie den Soldaten, »und dann versiegelt ihr den Tempel.«
Eine Woche lang verließ Inanna ihre Gemächer hoch oben im Palast nicht mehr und beweinte Alna. Niemand durfte zu ihr. Und in jeder Nacht hatte sie den gleichen Alptraum. Darin gelangte sie vor eine große weiße Wand, höher als hundert Männer. Die Steine waren so fugenlos zusammengesetzt, daß man sich nirgendwo daran festhalten konnte. Inanna lehnte die Stirn an die Wand, spürte ihre Festigkeit und ihre Unüberwindbarkeit. Und nach einer Weile hörte sie Alna, die von der anderen Seite der Mauer nach ihr rief. Der Klang der Kinderstimme machte sie rasend, und wie eine Wahnsinnige versuchte sie, an der ebenen Wand hochzusteigen, und warf sich immer wieder dagegen, bis ihr ganzer Körper voller blauer Flecke und Schrammen war. Als sie begriff, daß sie so nicht weiterkam, rannte sie auf der Suche nach einer Öffnung die Wand entlang. Eine ganze Nacht und einen vollen Tag rannte sie ohne Unterbrechung, bis sie besinnungslos zu Boden fiel. Und wenn die Ohnmacht vorüber war, rappelte sie sich wieder auf und rannte weiter.
Endlich, am Ende der Woche, gelangte sie zu der Erkenntnis, daß diese Wand weder
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