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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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eine Öffnung noch ein Ende aufwies. Am siebten Tag gab sie es schließlich ganz auf. Sie kehrte der Mauer den Rücken zu und marschierte davon, bis sie Alnas Stimme nicht mehr hören konnte.
    Im Traum sah Inanna auf ihre Hände und entdeckte, daß sie ein blutbeflecktes Rosengebinde hielten. Dies soll das Symbol meines Kummers über Alna sein, schwor sie sich, und ich will es immer bei mir tragen. Zum erstenmal seit dem Tod der Königin spürte sie wieder das Wolfsherz in ihrer Brust schlagen, und sie wußte, daß ihr die große Schlacht noch bevorstand.
    Zweihundertundvierzig Lederschilde erhoben sich unisono und schoben sich zu einer festen Mauer zusammen. Ein Pfeilregen, das Krachen von Leder, während die Soldaten vorrückten, der gleichförmige Tritt vieler Sandalen. Kaninchen flohen in die Hecken, Schwärme aufgescheuchter Spatzen erhoben sich in die Lüfte. Drei Tage später fing Inanna an, die
Magurs
der neuen Armee zu drillen. Frühmorgens noch vor dem ersten Sonnenlicht stand sie auf, aß rasch ein paar getrocknete Datteln und lief vor die Stadt zum Exerzierplatz, um dort den Rest des Tages zu verbringen. Erst wenn es zu dunkel geworden war, die Zielscheiben zu erkennen, kehrte sie in ihre Gemächer zurück. Fünfzigmal traf ihr Speer mitten ins Zentrum. Dann hundertmal. Sie verwandelte ihren Kummer über Alna in Waffen gegen Rheti und Pulal.
    Immer öfter in diesen Tagen fragte sich Inanna, ob es zwischen den beiden eine Verbindung gab. Sie sah zu den Bergen im Osten und sagte sich, daß Pulal das Werkzeug von Rhetis teuflischen Plänen war; daß sie nicht zwei, sondern nur einen Feind zu bekämpfen hatte: ein dunkles und widerwärtiges Wesen, das wie ein Wurm im Apfel im Zentrum des Schicksals hockte. Obwohl sie sich sagte, daß diese Überlegungen bei nüchterner Betrachtung wenig Bestand hatten, wirkten sie auf Inanna doch so überzeugend, daß sie sich ihnen nicht entziehen konnte.
    Zweihundertmal ins Zentrum. Dreihundertmal. Das Gewicht des Speers in ihrer Hand, das Gefühl der Erde unter ihren Füßen, das Anspannen der Muskeln beim Zielnehmen und beim Wurf. Ihre Arme wurden hart, und die Blässe wich von ihrer Haut. In den Nächten schlief sie tief und fest. Ihr Schmerz war ein Speer, und den schleuderte sie mit aller Kraft. Blatt und Schaft drangen ein. Wenn dieser Strohballen Rheti wäre, würde jetzt der ganze Boden ringsum rot von Blut sein. Und so schleuderte sie den Speer wieder und wieder.
    Während die Wochen vergingen, wuchs die Kraft hell und fest in ihr. Wenn sie in der Nacht den Wandelstein in die Hand nahm, fühlte sie, daß Pulal irgendwo in den vorderen Bergen auf sie wartete. Er war so nahe gekommen, daß sie manchmal glaubte, nur den Arm ausstrecken zu müssen, um ihn berühren zu können. Sie spürte, daß Rhetis Teuflischkeit unter Pulals Grinsen lauerte und dort hart und scharf wie eine Axt auf sie wartete. Und sie wußte, daß sie nicht nur eine Schlacht zu schlagen hatte, sondern daß ihr der Entscheidungskampf bevorstand.
    Zur Hälfte des Winters rief Inanna die Bauern aus den Dörfern zusammen, um aus ihnen zehn neue Magurs zu bilden. Die Armee mußte noch wesentlich stärker werden, und so wenig Zeit stand ihr zur Verfügung. In den Depots unter dem Palast türmten sich in den Ecken die leeren Krüge, die einst mit Linsen gefüllt gewesen waren. Ein Gutteil des Saatguts war zu Brot gebacken worden, um damit die neuen Soldaten zu verpflegen, und die Hirse war bis aufs letzte Korn aufgebraucht. Dämme, die schon in der Trockenzeit hätten repariert werden sollen, brachen; der Fluß spülte die fruchtbare Krume fort und hinterließ flächenweise weiße Sand- und Salzstellen. Aber jetzt war nicht die geeignete Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Im Frühjahr würde Pulal vor den Toren stehen. Inanna spürte, wie die Stämme unter seiner Führung heranzogen. In ihren neuen Träumen sah sie die Reihen der schwarzen Zelte, die sich von Horizont zu Horizont über das Flußdelta erstreckten.
    Weidenschilde, die mit Pech bestrichen und mit Fell überzogen waren. Tausend Speere, deren Schäfte noch so grün waren, daß manchmal der Saft aus ihnen floß. Woher sollte sie genug Metall für die Axtblätter bekommen? Und für die Speerspitzen? Inanna befahl, daß sämtliche Kupfergerätschaften in der Stadt eingeschmolzen werden sollten, um daraus Waffen zu machen. Und dennoch erhielten immer noch die Hälfte der Speere Spitzen aus Stein. Tagsüber stieg unablässig Rauch aus den

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