Kornmond und Dattelwein
Schmieden, und das Donnern der Schmiedehämmer war selbst außerhalb der Stadtmauern noch zu hören. Am Fluß verfärbten sich die Zweige der Weiden, und die Spatzen bauten sich im nackten Geäst ihre Nester. Die ersten Wildblumen wuchsen auf den Feldern. Die Olivenbäume standen in voller Blüte. So wenig Zeit! In der Nacht sah Inanna, wie Pulal immer weiter vorrückte, wie die schwarzen Zelte wie ein Gletscher vordrangen.
»Wir müssen die Soldaten auch darin üben, außerhalb der Mauern zu kämpfen«, sagte Lyra eines Nachmittags, als sie mit Inanna unter einer Dattelpalme saß und Seb dabei zusah, wie er mit Rekruten exerzierte. Lyra nahm einen Schluck Wasser, wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab und schnalzte verächtlich. »So wie Ihr in der letzten Zeit die Magurs trainiert habt, können sie die Nomaden höchstens eine Woche lang aufhalten!«
Inanna bedeckte mit einer Hand die Augen und sah auf den Exerzierplatz. »Wir warten nicht, bis die Nomaden zu uns gekommen sind. Wir marschieren ihnen entgegen und überraschen sie.« Sie nahm einen Stock in die Hand und zeichnete eine grobe Skizze des Vorgebirges und der Berge dahinter in den Staub. »Ich kenne die Pfade und auch die Stellen, die sich für ihre Lager eignen.« Eine lange, krumme Linie für eine Schlucht, dann ein Kreis. »Wenn sie ihre Herden mitbringen, sind sie auf Weideland angewiesen.« Sie stieß die Stockspitze mitten in den gezeichneten Kreis. »Dort wollen wir sie angreifen. Hier, wo das Vorgebirge, das Hügelland beginnt. Wenn sie dann die Flucht ergreifen wollen, haben sie die Berge vor sich.«
»Und wenn wir es sind, die die Flucht ergreifen müssen?«
»Was willst du denn? Daß ich die Stadtmauern repariere und die Tore verstärke?«
»Ja, genau das.«
Inanna schüttelte den Kopf. »Ich versuche doch schon die ganze Zeit, dir zu erklären, daß uns nicht genügend Zeit bleibt, die Stadt zu befestigen
und
die Armee stark zu machen.« Auf dem Exerzierplatz knieten die Soldaten, legten Pfeile auf ihre Bögen und ließen sie auf Sebs Befehl losschnellen. Ein großes Schwirren erhob sich, und das Sonnenlicht glitzerte zwischen den Pfeilschäften. Am Himmel trieben kleine weiße Wolken eilig nach Westen, und die Brise vom Fluß brachte den Geruch von frischem Wasser und neuem Gras mit sich.
Lyra sah auf die Skizze und schüttelte den Kopf. »Wir haben immer die Stadt hinter den Mauern verteidigt«, erklärte sie. »Meine Mutter Sellaki weiß Geschichten von Jahren zu erzählen, in denen die Nomaden mit einer Übermacht von zehn zu eins angriffen. Aber die Stadtmauern hielten ihnen stand. Und nun seht Euch einmal an, in welchem Zustand die Mauern heute sind.«
Inanna wußte um die Spalten und Löcher in den Mauern, um das halb verfaulte Holz der Tore und um die Breschen, die lediglich mit Schutt aufgefüllt worden waren. Es würde Wochen in Anspruch nehmen, die Befestigungen wieder auf den alten Stand zu bringen. Draußen marschierte eine Kolonne Soldaten vorüber. Die roten Federbüsche wehten in der Brise. Inanna dachte daran, wie die Schwarzköpfigen zu kämpfen pflegten: ein wilder Mob von Männern ohne Strategie oder Taktik; jeder entschied für sich, welchen gegnerischen Soldaten er angreifen wollte. Die Magurs der Stadt würden wie eine Ramme durch den Haufen der Nomaden stürmen.
Aber konnte sie sich wirklich darauf verlassen? Inanna erinnerte sich daran, was in ihrem Leben alles schiefgelaufen war, wenn sie ein anderes Ergebnis erwartet hatte. Sie dachte an Lilith und an Enkimdu, an Alna und an die alte Königin, und auch an Rheti. Wie viele Fehler hatte sie schon begangen? Als sie noch jünger gewesen war, hatte sie geglaubt, stets zu wissen, was sie tat, aber heute war sie sich da schon lange nicht mehr sicher. Auf dem Exerzierplatz schossen die Soldaten eine weitere Pfeilsalve ab. Die Wedel der Dattelpalmen tanzten in der Brise und warfen lange, speerförmige Schatten auf den Boden. Machte sie jetzt vielleicht wieder alles falsch? Was, wenn Lyra recht hatte?
»Such dir die Soldaten heraus, die schlechte Schützen oder Speerwerfer sind. Die sollen an den Stadtmauern arbeiten«, erklärte sie Lyra schließlich. »Aber nicht mehr als ein halbes Magur.«
Später in diesem Frühjahr, als die Blätter der Weiden schon die Größe von kleinen Fischen erreicht hatten, traf die Nachricht ein, auf die sie so lange gewartet hatten. Es war ein heißer Tag. Inanna befand sich auf dem Exerzierplatz und trug nur ihr Unterzeug. Sie
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