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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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werden. Inanna entdeckte, daß sie etwas Angst hatte, und fragte sich, ob es den anderen ebenso ging. War denn alles Exerzieren und aller Drill nutzlos, wenn man einem tatsächlichen Feind gegenübertrat? Die Arme der Gefährtinnen waren stark, und ihre Mienen zeigten Entschlossenheit. Aber würden sie dem Angriff des Feindes standhalten und kämpfen, oder würden sie ihre Waffen fortwerfen und die Flucht ergreifen?
    Nein, Inanna hatte Vertrauen zu ihrer Truppe. Als die Nomaden endlich die Soldaten aus der Stadt bemerkten, rannten sie aus ihren Zelten undbauten sich auf dem Hügel auf. Sie sangen ihre Schlachtlieder und riefen dem Feind Schmähungen zu.
    »Feiglinge, wartet nur, gleich geb ich euch meinen Speer zu schmecken!«
    »Kommt näher, damit ich euch zeigen kann, wie man eine Axt führt!«
    »Habt ihr euch so fein herausgeputzt, weil ihr wißt, daß ihr diesen Tag nicht überleben werdet?«
    Die Worte in ihrer Sprache kribbelten Inanna am ganzen Körper. Sie erinnerte sich, wie Pulal und seine Kampfgefährten die gleichen Schmähungen gegen die Wilden ausgestoßen hatten. Damals war sie noch ein Kind gewesen. Kein Mond war in jener Nacht am Himmel aufgetaucht, und Enshagag hatte sie unter einem Haufen alter Decken verborgen, damit die Wilden sie nicht entdecken und entführen würden. Lilith war auch unter den Haufen gekrochen. Die beiden hatten sich in den Armen gehalten und vor Angst geweint. Sie hatten sich Deckenenden in den Mund geschoben, um kein Geräusch zu machen. Einige Zelte waren in Flammen aufgegangen, und am nächsten Morgen fehlten drei Kinder und eine Frau. Die Körper der getöteten Wilden hatten nackt dagelegen. Man hatte ihnen die Köpfe abgeschlagen und zur Warnung an die anderen auf Pfähle gesteckt. Wochenlang hatten die Krieger nach den Entführten gesucht und erst im Winter, als der erste Schnee fiel, damit aufgehört.
    Widerstrebend löste sich Inanna aus ihren Erinnerungen und inspizierte Nomaden auf dem Hügel. Sie sah in ihre Gesichter, ob sie jemand wiedererkennen würde. Schwarze Haare wie ihre eigenen auch, aber kein vertrautes Gesicht darunter. Sie fragte sich, wie sie reagiert hätte, wenn darunter einige Männer aus dem Stamm Kur gewesen wären. Ob sie dann immer noch die Entschlossenheit aufgebracht hätte, das Magur gegen sie in den Kampf zu führen? Sie war froh, daß nur Fremde auf dem Hügel standen.
    »Huren!« brüllte einer der Nomaden plötzlich. Also hatten sie nun auch entdeckt, daß ihre Feinde Frauen waren.
    »Wölfinnen!«
    »Teuflinnen!«
    »Kommt her, damit ich euch zeigen kann, wie meine Axt Liebe macht!« Gelächter. »Na, wer von euch traut sich, sich zeigen zu lassen, was ein Mann mit einer Frau machen kann?« Die Schmährufe brachten Inanna Pulal ins Gedächtnis, und alles Mitgefühl für ihre Stammesgenossen schwand.
    »Die Schilde hoch!« befahl sie grimmig. Die erste Reihe des Magurs hob die Schilde und hielt sie wie eine Mauer aneinander. Hinter diesem Wall knieten die Bogenschützen und legten die Pfeile auf die Sehnen. Die Nomaden sahen verwundert zu und konnten offensichtlich mit diesem Manöver nicht viel anfangen. Der größte von ihnen drehte sich um und schien sich mit seinen Kameraden zu beraten.
    »Wollt ihr jetzt für uns tanzen, ihr Schlampen?« rief er.
    »Sehnen spannen«, befahl Inanna. Plötzlich wirbelte der größte die Axt über seinem Kopf und rannte den Hügel hinunter. Er bewegte sich so leichtfüßig wie ein Hirsch über den unebenen Boden. Etwas an der Art seiner Bewegungen strahlte Ästhetik aus, und Inanna bewunderte ihn gegen ihren Willen. Das war ein Krieger, wie man ihn sich nur erträumen konnte. Einen Augenblick lang – bevor sie sich darauf besinnen konnte, daß dieses Volk nicht mehr das ihre war –war sie stolz auf diesen Mann. Die anderen Männer folgten ihm. Sie griffen so an, wie Inanna es von ihnen erwartet hatte: ein ungezügelter, brüllender Haufen, ohne Ordnung, ohne Drill. Nur schiere Kampfeslust. Sie verstand jetzt, warum die Wilden immer solche Angst vor den Kriegern von Kur gehabt hatten.
    »Schießt!« Die Bogenschützen ließen die Pfeile von den Sehnen schnellen. Eine Pfeilwolke sirrte durch die Luft. Fünf Nomaden brachen zusammen. Einem hatte ein Pfeil den Hals durchbohrt. Ein Verwundeter begann zu schreien, brach aber mit einem gurgelnden, würgenden Geräusch ab. Die anderen rannten vorbei, ohne einen Blick auf ihn zu verschwenden. Ein Speer mit Steinspitze fuhr in einen der Olivenbäume. Diesem

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