Kornmond und Dattelwein
schleuderte gerade den Speer auf den Strohballen, als sie Lyra bemerkte, die an einem Weidenwäldchen stand und ihr wie wild Zeichen gab.
»Kommt, kommt rasch!« schrie Lyra. Neben ihr befand sich ein Mann, der über und über mit Staub bedeckt war. Selbst aus der Entfernung erkannte Inanna in ihm einen der Kundschafter wieder, die sie im Vorgebirge postiert hatte. Sie ließ den Speer fallen und rannte zu den beiden.
»Was bringst du für Nachrichten?«
»Die Nomaden sind da, meine Königin.« Er hatte eine größere Schnittwunde auf der Stirn, aber seine Augen leuchteten. »Sie fielen über uns her, während wir schliefen. Ich war der einzige, der ihnen entkommen konnte. Ich fürchte, sie haben allen Posten die Kehle durchgeschnitten, denn nicht ein einziger Alarmruf ertönte.«
»Woher weißt du, daß es die Nomaden waren?« Sie konnte ihre
Erregung kaum noch zügeln. »Die Wilden pflegen auch Kehlen durchzuschneiden.«
»Ich habe mich im Unterholz verborgen, und am nächsten Morgen konnte ich sie und ihre Zelte sehen.«
»Welche Farbe hatten die Zelte?«
»Schwarz.« Er lächelte stolz. »Schwarze Zelte, so viele, wie ich Finger an den Händen habe, standen auf dem Hügel über dem heiligen Olivenwald.« Inanna erinnerte sich an das riesige Lager am Berg Kur, wo mehr Zelte gestanden hatten als Sterne am Himmel waren. Also war die Hauptstreitmacht noch nicht da. Ein wenig Zeit blieb ihr noch.
Sie zog einen silbernen Ring vom Finger und warf ihn dem Kundschafter zu, der ihn geschickt aus der Luft fing und sich dankbar verbeugte. Was für ein Pech, daß man aus Silber keine Speerspitzen machen konnte. Aber es war geschmeidig genug, um damit andere Siege erzielen zu können.
Am nächsten Morgen führte Inanna eine Magur zum Olivenhain. Es war eine Elitetruppe, die nur aus Gefährtinnen der Königin bestand. Sechzig Beinpaare marschierten in perfekter Ordnung. Die Rüstungen waren gut geölt, die Speerspitzen glitzerten im Sonnenlicht. Die Kupferbeulen auf den Schilden waren so auf Hochglanz gebracht, daß man fast blind wurde, wenn man darauf sah. In den Baumhecken waren die Nester voller Eier, und auf den Feldern grasten die Rehe friedlich neben den Hasen. Überall schien die Natur ein reiches Füllhorn ausgeschüttet zu haben. Wildveilchen breiteten rosafarbene Teppiche an den Bewässerungskanälen aus, der Senf stand hüfthoch, die Aprikosenbäume standen in voller Blüte und roter Klatschmohn säumte den Weg. Konnte man wirklich an einem solchen Tage eine Schlacht beginnen? Einen Augenblick lang wirkte die ganze Welt wie der Horst der Königin, wie Lanlas makelloser Garten. Dann entdeckte Inanna die schwarzen Zelte, die sich direkt über den Olivenbäumen erhoben.
Sie blieb stehen und befahl einen Halt. Irgend etwas stimmte hier nicht. Sie studierte die Zelte, um herauszufinden, was sie beunruhigte. Das Lager lag zu offen da. Welcher Erkundungstrupp würde sich schon so überdeutlich präsentieren? Und anscheinend hatten sie nicht einmal Wachen aufgestellt. Wo waren ihre Hunde? Das Ganze erschien Inanna wie eine Falle.
Sie sah weiter hin, und da sie soviel Altvertrautes erblickte, trocknete ihr der Mund aus. Alles war so, wie sie es noch in Erinnerung hatte: die kleine Ziegenherde, die sich das junge Gras schmecken ließ, die Kochstellen und das aufgeschichtete Feuerholz neben den Zeltplanen. Die Gewänder, die dort auf den Büschen zum Trocknen auslagen, hätten genauso von Hursag sein können. Ihr Blut, ihr Volk. Nein, es war nicht mehr ihr Volk, sondern ihr Feind.
»Seht euch um, ob sich nicht hier irgendwo welche von ihnen herumtreiben«, befahl sie ihren Spähern. Nach kurzer Zeit kehrten die Späher zurück und vermeldeten, daß sich ringsum nur Rehe und Hasen aufhielten, aber keine Schwarzköpfigen. Also war es doch keine Falle. Inanna gab der Kolonne das Zeichen zum Weiter-marsch. Vielleicht war es den Schwarzköpfigen so leicht gefallen, mit den Wilden fertig zu werden, daß sie zu siegessicher geworden waren und alle Vorsichtsmaßnahmen außer acht ließen. Dennoch konnte Inanna eine gewisse Unruhe in sich nicht unterdrücken. Sie erinnerte sich daran, wie sorgfältig Pulal seine Feldzüge zu planen pflegte. Warum sollte er es hier anders angefangen haben?
Der Marsch zum Lager erschien ihr wie ein Traum. Lange Zeit geschah überhaupt nichts. Bis auf den Marschtritt der Gefährtinnen und dem gelegentlichen Ruf eines Vogels war kein Laut zu vernehmen. Und dies sollte ihre erste Schlacht
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