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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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ersten folgten bald weitere. Inanna duckte sich, so daß sie ebenfalls von den Schilden geschützt wurde. Die Nomaden waren so nahe gekommen, daß sie schon ihre Amulette an den Hälsen erkennen konnte.
    »Sehnen spannen!« brüllte sie über das Getöse, legte selbst einen Pfeil auf ihren Bogen und zielte sorgfältig auf den Riesen. »Schießt!« Sie ließ die Sehne los, und der Pfeil fuhr dem Mann mitten in die Brust. Er hielt mit einem überraschten Gesichtsausdruck mitten im Lauf inne, brach dann zusammen und zerrte an dem Schaft. Sie hatte ihn getroffen! Blut sprudelte aus dem Mund des Mannes, sein Körper zuckte und lag dann stocksteif da. Sie hatte ihn getötet! Aber jetzt war keine Zeit, darüber nachzudenken. Die anderen Nomaden griffen immer noch an und würden jeden Moment den Schildwall erreichen.
    »Sehnen spannen! Schießt!« Plötzlich war Totenstille, die nur vom Rascheln der Zweige im Wind unterbrochen wurde. Auf dem Hang lagen wie angeschwemmtes Treibholz über zwanzig Nomaden. Alle tot. Ein Augenblick betäubten Schweigens trat ein, in dem die Gefährtinnen sich klarmachten, was sie soeben vollbracht hatten. Dann stieß eine der Frauen einen Siegesschrei aus, und die anderen fielen ein.
    »Ein Hoch auf unsere Königin!«
    »Wir haben sie besiegt!«
    Inanna schob sich durch den Schildwall und trat auf den Mann zu, den sie getötet hatte. Sie winkte zwei Gefährtinnen herbei und befahl ihnen, seinen Körper umzudrehen. Sie hatte ein außerordentliches Hochgefühl, so als hätte sie zuviel von einem berauschenden Wein getrunken. Sie bückte sich und zog den Pfeil aus der Brust des Mannes. Dann hielt sie das Stück hoch, damit alle es sehen konnten.
    »Hoch lebe die Auserwählte unserer Göttin!« jubelten die Gefährtinnen. »Hoch lebe unsere Kriegskönigin!«
    Vielleicht hatten sie recht. Sie fühlte sich so leicht, so als hätte sie sich in einem Begeisterungstaumel aus sich selbst erhoben. Vielleicht war sie wirklich die Auserwählte. Hatte die alte Prophezeiung nicht verkündet, daß eine große Kriegskönigin aus dem Osten kommen würde? Inanna betrachtete den Getöteten mit einem eigentümlichen Gefühl der Befriedigung. Sie hatte kein Erbarmen mit ihm, sondern spürte nur die ständig anwachsende Macht in ihr, die sie davonzutragen schien. Ein einzelner Pfeil aus ihrer Hand, der über Leben und Tod entschied. Sie kam sich fast so vor wie eine Göttin. Kein Wunder, wenn Pulal so berauscht kämpfte. In diesem Augenblick verstand sie ihren Bruder besser als je zuvor.
    »Dies war der erste von unseren ungezählten Siegen!« rief sie ihren jubelnden Gefährtinnen zu. Hinter ihr auf dem Hügel wehten die Zeltplanen leise im Wind. Der Himmel hatte sich etwas bewölkt. Es war schwül geworden, so als sammle sich ein Sturm. Die Olivenblätter fingen schon an zu schwitzen. Inanna dachte an Enkimdu, Alna und Lilith; und sie dachte an Pulal. Nein, kein Zweifel war mehr in ihr. Sie sah auf das Gesicht des Toten und wußte nun, auf welcher Seite sie stand. Sie wandte sich ihren Kriegerinnen zu, hielt den bluttriefenden Pfeil hoch und zeigte auf die schwarzen Zelte. »Falls dort oben noch irgend etwas lebt«, rief sie, »dann tötet es!«
    Aber kurze Zeit später änderte sie ihre Meinung. Nicht aus einer verborgenen Liebe für die Nomaden, sondern wegen einer Ungewißheit, die sie schon den ganzen Morgen lang beunruhigt hatte. Ein Rumoren in ihr, das sich nicht fassen ließ. Und mit jedem Augenblick wurde dieses Gefühl stärker. Bald glaubte sie, jemand oder etwas versuchte sie zu warnen, daß sie voreilig den Sieg für sich in Anspruch genommen hatte.
    »Wartet.« Die Gefährtinnen blieben auf dem Hang stehen und sahen sie erwartungsvoll an. Warum hatte sie sie aufgehalten? Wenn sie jetzt doch nur nicht so unsicher wäre. Sie trat zwischen die Olivenbäume und blieb vor dem größten stehen. Seine Rinde war silbergrau, und die alten Wurzeln hatten sich nach oben geschoben. Wie ineinander verschlungene Nattern lagen sie auf dem Boden. Inanna wandte den Blick von ihnen ab und betrachtete den Baldachin von Ästen und Blättern über ihrem Kopf. Auf den Zweigen zeigten sich schon die ersten Früchte; harte, grüne Kugeln, kaum größer als die Spitze ihres kleinen Fingers; im Grunde gerade erst dem Blütenstadium entwachsen. Inanna pflückte eine Olive und schob sie sich in den Mund. Sie mußten natürlich noch behandelt werden, um den richtigen Geschmack zu haben, und diese hier war so bitter, wie sie es

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