Kornmond und Dattelwein
Schlüssel zu diesen Frauen.
»Bringt Früchte und Weinschläuche vom Bagagewagen und auch ein paar Decken.«
Die Decken wurden ausgebreitet, und Inanna ließ sich auf einer von ihnen nieder. Sie bedeutete den Frauen, es ihr gleichzutun. Die Jüngeren befühlten zögernd die Wolle und bewunderten die feine Machart. Nur die Alte ließ sich mit einer Selbstverständlichkeit einer der Decken nieder, als habe sie in ihrem langen Leben nur mit solchen Stoffen zu tun gehabt. Inanna entstöpselte einen Weinschlauch und hielt ihn den Schwarzköpfigen freundlich hin. »Habt keine Angst. Niemand will euch etwas tun.« Ihre Erleichterung war so groß, daß Inanna Mitleid mit ihnen verspürte. »Jetzt sagt mir eure Namen und den eurer Stämme«, sagte sie höflich. Die vier Jüngeren stellten sich zögernd vor. Wie Inanna vermutet hatte, waren sie vom Stamm Enlil. »Und du?«
Die Ältere nahm den Weinschlauch, und ihre Miene wurde ein wenig weicher. »Vom Stamm Utu«, erklärte sie knapp. Sie trank von dem Wein und verzog das Gesicht. »Was ist denn das?« »Wein.«
»Es schmeckt aber nicht nach Wein. Wahrscheinlich ist euch der Honig ausgegangen.«
»Dieser Wein ist auch nicht aus Honig gemacht. Möchtest du lieber etwas Süßeres?« Die Alte schien verblüfft von soviel Höflichkeit.
»Ja.«
Inanna ließ einen anderen Wein kommen, einen, der aus fermentierten Datteln gemacht war. Alle fünf Gefangenen tranken gierig davon und wischten sich mit den Ärmeln über den Mund, bis ihre Lippen so blau oder so rot waren wie ihre Gewänder. Bei den ersten Schlucken erröteten die Frauen noch, aber bald danach schien ihre Angst geschwunden. Die Alte setzte sich bequem hin und brachte sogar etwas wie ein leichtes Lächeln zustande.
»Wie lange mußtet ihr reisen, bis ihr hierher gelangt seid?« fragte Inanna ganz beiläufig. Aus den Antworten der Frauen schloß sie, daß der Haupttrupp der Nomaden irgendwo vor dem letzten größeren Höhenzug stand, also noch etwa zwei oder drei Tage entfernt war. Sie kam nach kurzem Überlegen darauf, an welcher Stelle Pulal wohl das letzte Lager aufgeschlagen haben mußte: in einer engen Schlucht mit einem größeren Bach und reichlich Feuerholz. Ein unzugänglicher Ort. Sie bemühte sich, ihre Stimme weiterhin gleichmütig klingen zu lassen. »Wer melkt denn die Ziegen während eurer Abwesenheit?« Sie nahm sich ein Stück Obst.
»Meine Mutter«, sagte die Jüngste und zupfte gedankenverloren am Saum ihres Gewandes. Sie hatte ein blasses, rundes Gesicht von der Form eines Handspiegels und war immer noch viel zu nervös. War sie von Natur aus ängstlich, oder hatte sie gerade gelogen? Die drei anderen jungen Frauen erklärten, die Altgattinnen hätten die Hausarbeit übernommen, und die Alte sagte gar nichts. Sie nahm noch einen Schluck Wein und preßte dann die Lippen zusammen, als ob sie sagen wollte: ›Aus mir bekommst du nichts heraus!‹ Inanna drückte den Stopfen wieder auf den Weinschlauch und stützte den Kopf auf die Hände, so als würde ihr dieses Frage-undAntwort-Spielchen langsam zuviel. »Ich hörte, die Frauen von Enlil seien hervorragende Melkerinnen«, sagte sie, »viel besser als die von Kur.«
»Die Frauen von Kur wissen eben nicht, wie man mit den Ziegen reden muß«, erklärte die Alte und schloß dann rasch wieder den Mund, so als habe sie dieser Ausbruch selbst überrascht. Inanna nickte und lächelte sie verständnisvoll an.
»Sind denn viele Frauen von Kur im Hauptlager?«
»Mir ist keine aufgefallen«, antwortete die Alte widerspenstig. Ihr Starrsinn ließ sie glaubwürdiger als die anderen erscheinen.
»Aber einige von Kur sind doch sicher dort«, bohrte Inanna weiter. »Ja«, sagte die Alte, »einige schon.«
»Und sicher auch die Frauen aus anderen Stämmen, oder?«
»Nur von Utu und Enlil. Die anderen sind bei ihren Männern in den Bergen geblieben.« Sie sah Inanna böse an. »So viele Wochen sind wir gewandert.« Die Alte machte eine Miene, als hätte sie gerade etwas besonders Schlimmes verraten.
Nur drei Stämme! Inanna konnte ihre Erregung nur mit Mühe verbergen. Dieser Idiot von Pulal kam mit nur drei Stämmen! Aber das konnte doch gar nicht sein. Das hieße ja, daß er kaum mehr als fünfhundert Krieger anführte. Fünfhundert undisziplinierte Nomaden gegen ihre vierzig durchtrainierten Magurs. Wenn die Frauen die Wahrheit gesagt hatten, stand keine Schlacht bevor, sondern ein Gemetzel unter den Schwarzköpfigen. Aber wenn sie nun gelogen hatten,
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