Kornmond und Dattelwein
erwartet hatte. Winzige grüne Oliven. In dem bevorstehenden langen Sommer würden diese Früchte größer werden und reifen, bis man sie ernten konnte. Die Nomaden hatten den ganzen Sommer, um gegen die Stadt anrücken zu können. Inanna spuckte die bittere Frucht aus. Bis diese Oliven erntereif waren, war vielleicht niemand mehr da, der sie noch pflücken konnte. Sie mußte die Invasion stoppen.
Inanna legte eine Hand auf den Stamm des alten Baumes und spürte seine Festigkeit. Lyra hatte gesagt, ihnen bliebe nur die Möglichkeit, hinter den Wällen die Stadt zu verteidigen. Aber Lyra kannte Pulal nicht. Wenn er die Vorstellung hatte, die Stadt sei voller Gold, Frauen oder sonstwas, das ihm wert erschien, würde er die Stadt eben belagern und aushungern. Sie sah zum Delta. Zwischen den Hügeln und dem Fluß lag genug Weideland, um die Schafe und Ziegen der Schwarzköpfigen auf Jahre zu versorgen. Keine gewöhnliche Belagerung, sondern mehr ein dauerhaftes Lager.
Inanna wandte sich den fünf Gefährtinnen zu, die immer noch auf halber Höhe des Hügels warteten. Eine der Frauen hatte ihren Helm abgenommen. Dickes braunes Haar fiel ihr bis auf den Rücken. Inanna erkannte sie als Tarna, eine der besten Speerwerferinnen.
»Setz den Helm wieder auf! Was glaubst du denn, wo du hier bist? Im Haus deiner Mutter?« Das Mädchen grinste wie ein Schaf und gehorchte. Es war ein heißer Tag, aber das war noch keine Entschuldigung. In den Zelten konnten sich weitere zwanzig Krieger verbergen. Inanna zeigte wieder auf das kleine Lager. »Bringt jeden, den ihr dort aufspürt, zu mir. Aber laßt ihn am Leben«, befahl sie.
»Ja, meine Königin«, rief Tarna und legte die Speerspitze an den Helm. Die fünf stiegen weiter den Hang hinauf, bedeckten sich mit dem Schild und waren in ständiger Kampfbereitschaft. Inanna ging zu einem Bach und setzte sich dort in den Schatten eines
Olivenbaums. Sie wandte den Zelten den Rücken zu. Es war kühl hier, fast schon kalt. Dort drüben war die Stelle, an der die alte Königin gelegen hatte, und dort der Baum, in dem sie sich verborgen hatte. Die Astplattform war unverändert. Wie lange war es schon her, seit sie dort hinaufgeklettert war, um ein wenig zu ruhen? Vier Jahre oder fünf? Damals war sie noch ein rauhes Mädchen aus den Bergen gewesen, jünger noch als Tarna heute. Und sie hatte Alna unter dem Herzen getragen.
Der Gedanke an Alna bereitete ihr solche Schmerzen, daß sie ihre Hand so fest um die Pfeilspitze schloß, bis ihr eigenes Blut sich mit dem des Nomaden vermischt hatte.
Einige Zeit später kehrten die Gefährtinnen mit fünf Frauen zurück, die sich in den Zelten versteckt hatten. Inanna erkannte, daß vier von ihnen vom Stamm Enlil waren. Denn nur in diesem Stamm färbten die Frauen ihre Wolle blau und banden sich die Haare zu einem einzelnen Zopf. Die fünfte Frau trug ein schmutziges Gewand und war von allen die älteste; wahrscheinlich eine Altgattin oder eine Witwe. Die weißen Perlen, die an einer Schnur um ihre Stirn hingen, verliehen ihr ein grimmiges Aussehen. Sie starrte Inanna düster an, und dieser Blick verlieh ihr zusammen mit den hängenden Wangen das Aussehen eines angriffslustigen Hundes. In welchem Stamm trugen die Frauen ein solches Rot? Ki oder Utu? Inanna konnte sich nicht mehr entsinnen. Wie ängstlich die vier jüngeren wirkten. Fast schon taten sie ihr leid. Ohne Zweifel Zweitfrauen, die nur einen geringen Status besaßen und zu dieser Unternehmung mitgenommen worden waren, um Essen zu kochen und die Zelte aufzuschlagen. Wenn Hursag jünger gewesen wäre, hätte Inanna vielleicht selbst auch mitgemußt, um solche Dienste zu verrichten. Das war das Schicksal der Zweitfrauen. Aber warum war dann die Alte dabei? Inanna konnte sich darauf keinen Reim machen.
»Wo ist das Hauptlager?« fragte sie unvermittelt. Die vier jüngeren starrten sie verblüfft an, als sie sie in ihrer eigenen Sprache reden hörten. Die Alte hingegen verschränkte die Arme vor der
Brust und biß die Zähne so fest aufeinander, daß keine Macht der Erde sie zu öffnen in der Lage schien. Wenn Inanna nicht dafür sorgen konnte, ihnen die Angst zu nehmen, würde sie noch bis zum Abend hier herumsitzen, um etwas aus ihnen herauszubekommen. Dann fiel Inanna ein, daß die Schwarzköpfigen nie ihr Mahl mit Feinden teilten. Sobald man nämlich mit einem Fremden aus demselben Topf aß, gebot einem die Sitte, ihn fürderhin als Gast zu behandeln. Vielleicht war Nahrung der
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