Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
Vom Netzwerk:
wenn sie ihr in Wahrheit eine Falle stellen wollten. Sie dachte an das große Lager am Berg Kur, wie gewaltig es damals bei der Hochzeit von Lilith ausgesehen hatte: Zelte wie schwarze Schneeflocken an den Hängen des Vulkans und auch auf der Ebene darunter. Zelte in jeder Richtung, so weit das Auge sehen konnte. Lyra hatte wohl doch recht gehabt. Wenn alle Stämme der Schwarzköpfigen vereint waren, konnte sie ihnen nicht widerstehen, es sei denn, hinter den Wällen der Stadt. Aber wenn die fünf Gefangenen hier doch die Wahrheit gesprochen hatten, waren nur drei Stämme in der Nähe, während die Hauptstreitmacht noch Wochen oder Monate entfernt in den Bergen stand. Wenn sie rasch handelte, konnte sie Pulal überwinden, bevor die anderen Stämme ankamen. Aber sie mußte herausfinden, ob diese Frauen gelogen hatten oder die Wahrheit sprachen.
    »Warum sind die anderen Stämme denn so weit zurückgeblieben?« fragte sie scharf. Die Alte preßte die Lippen zusammen, als hätte sie in etwas Saures gebissen. Offensichtlich redete sie nicht gern, aber vielleicht schauspielerte sie da auch nur.
    »Der Schnee liegt noch zu hoch auf den Pässen. Zu viele Ziegen würden dabei draufgehen, wenn sie zu unnachgiebig vorrücken sollten.« Eine kleine Schlange, die sich auf den Ästen eines Olivenbaums gesonnt hatte, glitt jetzt den Stamm hinab und verschwand in einem Loch zwischen den Wurzeln. Inanna spürte, wie sie eine Gänsehaut bekam. Es erschien ihr so, als hätte eine Vertraute Rhetis sie beobachtet.
    »Ein gutes Omen, meine Königin«, sagte eine der Gefährtinnen und lächelte. »Die Göttin hat uns einen Glücksboten gesandt.« Auch die anderen Soldaten schienen vom Anblick der Schlange erfreut zu sein. Tarna goß sogar etwas Wein als Opfer auf den Boden. Als Inanna sich wieder den Gefangenen zuwandte, war bei denen alle Farbe aus dem Gesicht gewichen.
    »Ist es wahr«, fragte die Jüngste mit furchtbebender Stimme, »daß die Frauen hier statt mit Männern mit Schlangen ins Bett steigen?« Inanna betrachtete das Mädchen und dann Tarna, die noch immer mit dem Weinschlauch in der Hand auf dem Boden kniete.
    »Wer erzählt denn so etwas?«
    »Unan vom Stamm Ki«, sagte das Mädchen. Hastig legte sie sich eine Hand vor den Mund und zitterte vor Angst. Die anderen Frauen stöhnten, und die Alte sprang sogar hoch. Inanna hatte mit zwei Schritten die Distanz zu der Jüngsten überwunden, packte sie grob am Kinn und stieß ihren Kopf zurück, bis sie ihr in die Augen sehen mußte.
    »Hast du nicht eben erzählt, nur die Stämme Kur und Utu seien mit den Leuten von Enlil über die Berge gekommen? Und jetzt redest du von einer Frau von Ki?« Sie logen, alle fünf hatten sie die ganze Zeit nur gelogen. »Also, heraus mit der Sprache: Wie viele Stämme sind hier? Sag mir die Wahrheit, Mädchen, sonst hast du dein Leben auf der Stelle verwirkt!« Das Mädchen zitterte so stark, daß sie kein vernünftiges Wort herausbekam, und in ihren Augen stand die schrecklichste Angst. Die Alte trat vor und legte der Jüngsten einen Arm um die Schulter.
    »Unan von Ki hat einen Mann von Utu geheiratet«, stieß sie hervor und sah Inanna mit unverhohlener Feindseligkeit an. »Nur die Stämme Utu, Kur und Enlil sind über die Berge gekommen.«
    »Und warum sollte ich euch jetzt glauben?«
    Die alte Frau verschränkte die Arme und sah Inanna gelassen an. »Weil ich die Wahrheit gesagt habe«, entgegnete sie.
     
    In dieser Nacht war Vollmond. Er sah aus wie eine Waffel aus Süßteig. Inanna stieg die lange, gewundene Treppe zum Horst der Königin hinauf, setzte sich auf die Bank und blickte lange Zeit über das Delta auf die Berge. Im matten Lichtschein schienen sich die Gipfel wie eine niedrige, dunkle Wolkenbank zu bewegen. Irgendwo dort draußen, nur zwei oder drei Tagesmärsche entfernt, lauerte Pulal. Aber wie viele waren bei ihm? Wenn sie nur zu entscheiden wüßte, ob die Gefangenen die Wahrheit gesagt hatten oder nicht. Sie stützte das Kinn auf eine Hand und starrte in die Dunkelheit. Ihr Blick schweifte und landete schließlich bei dem kleinen Wasserbecken. Ein trübes nachdenkliches Spiegelbild ihrer selbst starrte sie an.
    Sie könnte natürlich weitere Kundschafter ausschicken, aber dafür blieb eigentlich nicht mehr genügend Zeit. Aber wenn wirklich alle Stämme der Schwarzköpfigen mit Pulal gezogen waren, hätte sie dann nicht schon längst irgendwelche Zeichen von ihnen bemerken müssen? Lagerfeuer; fliehende Wilde; verirrte

Weitere Kostenlose Bücher