Kornmond und Dattelwein
erinnern, was sie zum Ausdruck hatte bringen wollen. Kaum hatte sie Bismayas Hand berührt, verlor sie jedes Gefühl für Raum und Zeit. Statt dessen fand sie sich vor einem großen See wieder, der über seine Ufer trat und den Wald überflutete. Tote Stämme ragten wie Skelette aus dem Wasser, und das Gras am neuen Ufer war vom angeschwemmten Erdreich schwarz und schlammig. Was ging hier vor? An der einen Seite des Sees erhob sich ein Erddamm mit vielen Sprüngen in der Oberfläche. Noch während Inanna hinsah, begannen die Risse und Sprünge sich aus eigener Kraft zu schließen und die Flut ging zurück. Dann war alles so plötzlich vorüber, wie es gekommen war, und Inanna fand sich vor dem Feuer in Bismayas Zelt wieder, deren Hand sie noch immer hielt.
»Wo bist du gerade gewesen?« fragte die alte Frau.
»Das weiß ich nicht.«
»Hat dir ein Gott eine Vision geschenkt?«
»Weiß nicht.« Inanna wollte aufstehen, war dafür aber noch zu benommen. »Du bist bald wieder gesund«, erklärte sie Bismaya. Die Worte kamen ihr über die Lippen, noch bevor sie wußte, was sie eigentlich sagen wollte. Sie dachte an den See und den Erddamm. »Du wirst gesund. Das Wasser verläßt bereits deinen Körper.«
»Bist du dir da auch sicher?« Bismaya packte Inanna mit beiden Händen und suchte ihr Gesicht nach entsprechenden Anzeichen ab.
»Ich bin mir in überhaupt nichts sicher.« Inanna machte sich von der Alten los, stand auf und ging wie in Trance aus dem Zelt. Wie hatte sie nur so etwas behaupten können? Wie hatte sie nur so etwas versprechen können? Sie war eine Närrin, eine unverantwortliche Närrin. Sie wollte ihre Kräutertasche fortpacken und nie wieder zu einem Kranken gehen.
Aber innerhalb kurzer Zeit blieb ihr keine Wahl mehr. Ein paar Tage später schon war das Wasser aus Bismayas Händen und Füßen verschwunden, und von da an fand Inanna kaum noch Ruhe.
Das Weib von Hursag hat besondere Fähigkeiten.
Gerüchte eilten mit der Geschwindigkeit eines Buschfeuers von Zelt zu Zelt, Inanna habe neue Heilmethoden gefunden und könne Wunder bewirken. Und schon kamen sie zu Hursag – die Kranken, die Verwundeten, die Sterbenden – und fragten nach seinem jüngeren Weib. Sie baten und flehten um Heilung für Gebrechen, die nicht einmal die Götter kurieren konnten: ein fehlendes Bein, ein zu hohes Alter, ein unabwendbarer Tod. Wie konnte es nur in einem Lager soviel Krankheit und Leid geben? Früher war ihr das doch nie aufgefallen. Inanna blieb bis zum Morgengrauen auf, zerstampfte Rindenstücke zu Pulver und braute Sude und Tees. Als sie sich nach mehreren Stunden Arbeit am Bett eines kranken Kindes streckte, fiel ihr auf, daß sie schon seit einiger Zeit nicht mehr an Enkimdu gedacht hatte. Vergaß sie ihn bereits? Sie versuchte, sich an sein Gesicht zu erinnern. Bald spürte sie wieder die alte Einsamkeit und den Schmerz seiner Abwesenheit. Eine Weile wollte sie sich nur ihren Gedanken hingeben und die Kranken krank sein lassen. Aber als die Erinnerung an ihn wieder eingesetzt hatte, war sein Fehlen noch härter zu ertragen als je zuvor. »Die Göttin Ki hat dich zum Segen für uns zurückgeschickt, Weib des Hursag«, erklärte eine Frau, nachdem Inanna ihr zur Freude ihres Gatten die bösen Kopfschmerzen mit einem Brei aus Thymian und Distelblättern genommen hatte.
»Meine Rückkehr ist kein Segen«, antwortete Inanna mit solcher Schärfe, daß die Frau sich die Kompresse von der Stirn riß und die Heilerin verständnislos anstarrte.
»Aber wo hättest du denn sonst hin gekonnt, Weib des Hursag?« fragte sie.
Die Saat gedeiht in der Dunkelheit. Ein ganzer Baum wartet im Kern einer Nuß auf sein Erwachen. Man öffnet ein Ei und findet darin einen winzigen Vogel mit Federn und zart ausgebildeten Gliedmaßen, obwohl man dort nur Dotter und Schale vermutet hat. Später fragte sich Inanna, warum ihr die Veränderung in ihrem Körper nicht schon früher aufgefallen war, warum ihr nicht der kleinste Verdacht gekommen war.
»Ich fühle mich nicht gut«, erklärte sie eines Morgens Dug. Die beiden melkten gerade zusammen die Ziegen, und ihre Köpfe ruhten an den warmen Leibern der Tiere. Es war nicht das gleiche Melken wie mit Lilith zusammen, wo sie gesungen, gelacht und einander Geschichten erzählt hatten, sondern ein dumpfes Nebeneinandersein. Die Milch floß in die Körbe von Pinienholzstreifen. Der Geruch der Flüssigkeit bereitete Inanna Übelkeit.
»Du bist hier, um zu arbeiten«, gab Dug barsch
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