Kornmond und Dattelwein
Monaten aussehen würde. Wie lange würde es noch dauern, bis jemand ihr Geheimnis bemerkte? Dabei würde es doch so einfach sein, mit allem ein Ende zu machen. Am Wegesrand wuchs eine bitter schmeckende Blume mit purpurrotem Stengel, dann eine kleine Minzart mit gräulichen Blättern und schließlich eine Wurzel, die sie schon öfters bei anderen Frauen eingesetzt hatte, um die Nachgeburt herauszuholen. Alle drei zusammen bewirkten, daß die Gebärmutter sich zusammenzog und die Fruchtblase platzte. Sie konnte die ganze Operation in einer Nacht ausführen, und danach würde niemand jemals davon erfahren.
Sie stand leise auf, tastete sich ihren Weg zu dem Pflock, an dem ihre Kräutertasche hing, nahm diese, öffnete sie und griff hinein. Ja, alles war vorhanden. Sie roch das scharfe Aroma der Minze und den scharf bitteren Geruch der Blume mit dem purpurroten Stengel. Die Wurzel fühlte sich unter ihren Fingern glatt an; nur einige Klümpchen Erde hingen noch an den Ranken. Jetzt brauchte sie nur noch einen Tee zu kochen und den anderen zu erzählen, daß es bei ihrer Monatsblutung zu einigen Unregelmäßigkeiten gekommen sei und sie deshalb dringend einen Tag Ruhe brauchte. Niemand – weder Dug, noch Hursag und nicht einmal Pulal–würde je davon erfahren.
Aber als Inanna sich vorbeugte, um die Tasche wieder an den Pfosten zu hängen, berührte ihre Linke unabsichtlich ihren Bauch, und das Leben in ihr meldete sich. Sie konnte es fühlen, wie es gekrümmt unter ihrer Handfläche schwamm, und das kleine Herz schlug bereits. Inanna begriff nun, daß dieses Wesen, so winzig es auch war, genausosehr leben wollte wie sie selbst. Dieses neue Leben würde die hohen Wangenknochen von Enkimdu und die wunderschönen Augen von Lilith haben. Und vielleicht würde es auch die Fähigkeit besitzen, die Pflanzen sprechen zu hören.
Am nächsten Morgen stand Inanna in aller Frühe auf und warf die Wurzel, die Minze und die bittere Blume in eine tiefe Felsspalte. Und als sie auf dem Rückweg solche Pflanzen am Wegesrand stehen sah, ging sie rasch an ihnen vorüber.
Da ihr nun klar war, daß sie für zwei Leben verantwortlich war – ihr eigenes und das des Kindes –, verdrängte sie alle Ängste. Sie mußte sofort fliehen, hatte keine andere Wahl mehr. Enshagag schlief schon seit einigen Nächten nicht mehr an ihrer Seite, und wahrscheinlich hegte auch Pulal keine Befürchtungen mehr, sie könne immer noch planen, den Stamm zu verlassen. Irgendwann in den nächsten Tagen mußten sie Inanna einfach allein aus dem Lager lassen, und sobald dieser Moment gekommen war, wollte sie ihn auch nutzen. Es machte nicht viel aus, daß sie den genauen Weg zurück zur Hütte nicht mehr kannte. Irgendwie würde sie das Tal schon wiederfinden. Jetzt mußte sie Nahrungsmittelvorräte anlegen, sich einen wärmeren Umhang weben und sich ein scharfes Messer und einen brauchbaren Flintstein besorgen. Wenn jemand sie aufhalten wollte, würde sie ihn umgehen. Wenn ein wildes Tier sie angreifen sollte, würde sie es töten. Und wenn sie beim Erreichen der Hütte feststellen mußte, daß Enkimdu nicht mehr da war, würde sie nach Westen weiterziehen, bis sie zu der Stadt gelangte. Sie würde ihn dort finden und ihm sein Kind bringen. Am wichtigsten aber war, aus dem Lager zu kommen.
Die Gelegenheit kam rascher als erwartet. Ein paar Tage später saß sie im Zelt und flickte eine von Hursags Sandalen, als Dug sich darüber zu beschweren begann, daß nicht genug Feuerholz für die nächste Mahlzeit da sei. »Nun sitz hier nicht so herum wie ein fauler Strick«, brummte sie, »sondern steh auf und suche Feuerholz.« Inanna wartete, ob die alte Frau mitkommen wollte, aber Dug fuhr einfach damit fort, übellaunig mit den Töpfen zu klappern. »Ja, worauf wartest du denn noch? Meinst du, das Ziegenfleisch wird von ganz allein gar?«
Inanna nahm sich ihren wollenen Tragesack, trat aus dem Zelt und marschierte rasch zum Lagerrand. Der Tag war schon weit fortgeschritten, und die untergehende Sonne hatte den Himmel hinter den Bergen in eine gelbe, mit rot durchzogene Fläche verwandelt. Inanna atmete die kühle und klare Luft tief ein und fühlte sich zum erstenmal seit Wochen frei. Vorsichtig sah sie sich um, ob Pulal nicht in der Nähe war, dann ließ sie das letzte Zelt hinter sich und gelangte ins hohe Gras.
Sollte sie jetzt schon die Flucht antreten? Aber Dug saß im Zelt und wartete auf Feuerholz. Wenn sie nach einer gewissen Zeitspanne nicht
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