Kornmond und Dattelwein
und zeigte auf Enshagag.
Hursag wollte protestieren, aber Pulal brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.
»Später wirst du immer noch genügend Zeit finden, dir von ihr dein Bett anwärmen zu lassen«, sagte er barsch.
»Ich wärme dir heute nacht das Lager, Liebling«, sagte Dug, packte ihn rasch an der Hand und hatte ihn schon in den hinteren Teil des Zelts gezogen, bevor er noch einen Einwand machen konnte. Enshagag breitete ihre Decken neben Inannas Lager aus und legte sich dorthin, ohne noch ein Wort zu sagen. Sie hatte im letzten Jahr deutlich zugenommen, und ihr Körper füllte den Platz bis zur Zeltklappe vollkommen aus. Inanna wußte außerdem, daß ihre Stiefmutter einen leichten Schlaf hatte.
Pulal trat Asche ins Feuer, um es zu löschen. »Laß sie nicht aus dem Auge«, verabschiedete er sich von Enshagag.
Früh am nächsten Morgen, noch bevor die Sonne aufgegangen war, versuchte Inanna, die die ganze Nacht hindurch wach gelegen hatte, leise aus dem Zelt zu schleichen. Aber Enshagag hatte ebenfalls kein Auge zugetan und packte sie schon am Arm, noch bevor Inanna sich von ihrem Lager erhoben hatte.
»Wo willst du hin?« zischte Enshagag. Sie legte zwei Finger an die Lippen und pfiff schrill. Kurz darauf betrat Pulal das Zelt. Er hatte sich das Haar mit Wasser nach hinten gekämmt und trug bereits ein neues Gewand.
»Guten Morgen, Mutter«, sagte er.
Sie fand sich in einer Koppel wieder; war angepflockt wie eine Ziege; war in einem Ledersack verschnürt; war unter einem Misthaufen begraben. Große Felsbrocken lagen auf ihrer Brust, zerquetschten ihre Lungen und preßten sie auf den Boden. Sie konnte weder atmen noch sich rühren. Sie erstickte; sie starb. Sie mußte hier fort. Sie würde an den Gatterlatten zerren, würde den Mist mit bloßen Händen abtragen, würde die Brocken heben ... Und dann wachte sie auf und fand sich in Hursags Zelt wieder. Neben ihr lag Enshagag. Inanna roch den ekligen Schweißgeruch am Körper ihrer Stiefmutter und wußte, daß sie wieder von ihrer Flucht geträumt hatte.
Wieder und wieder hatte sie dieses Erlebnis, immer wieder den gleichen Alptraum. Und stets lag sie danach noch lange wach im Halbdunkel und fragte sich, wie sie jemals wieder zu Enkimdu zurückfinden sollte. Sie wußte, daß die Steine, das Gatter und der Dreck aus ihrem Traum für Enshagag, Pulal und Dug standen. Wohin sie auch ging, einer von den dreien war immer dabei. Beim Ziegenmelken, beim Feuerholzsammeln, beim Deckenwaschen im Fluß, immer war Enshagag neben ihr, oder sie wurde von Pulal scharf beobachtet. Wenn sie einmal vom Weben aufsah, hockte Dug vor ihr und verfolgte jede einzelne ihrer Bewegungen. Sie wußten oder vermuteten zumindest, daß sie einen anderen Mann hatte. Aber ganz sicher konnten sie nicht sein.
Manchmal wenn Inanna wach dalag, stellte sie sich vor, wie Enkimdu ihre Spur aufgenommen hatte und ihr mit dem nachgemachten Schrei eines Vogels oder Ruf eines Wolfs ein Zeichen geben wollte. Andere Male gab sie sich alle Mühe, vernünftig zu sein: Natürlich hielt er sie mittlerweile für tot und war längst zu seinem Volk zurückgekehrt. Nein, verlieren würde sie ihn nicht. Eine halbe Tagesreise durch die Schluchten auf die Sonne zu. Eine halbe Tagesreise einen Fluß entlang. Der vom Blitz gefällte Baumstamm an der Flußbiegung. Jede Nacht sagte sie in Gedanken den Weg auf, auf dem der Stamm hierher gekommen war. Aber in jeder neuen Nacht wurde es für sie schwieriger, sich genau zu erinnern. Eine kleine Wiese, die an einem Ende von einem Steinhaufen begrenzt wurde. Ein Höhenzug, der an einer Schlucht endete. An der mittleren Weggabelung die zweite Abbiegung. Der alte Pfad verwickelte sich in ihren Gedanken wie ein Strang zerfaserter Wolle. Drei Wacholderbüsche, die sich aus dem Felsboden erhoben. Der untere Pfad. Eine Gruppe Nußbäume direkt vor der Abbiegung. Oder vor dem oberen Pfad? Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, aber sie durfte es nicht vergessen. Wenn sie noch mehr vergaß, würde sie Enkimdu niemals wiederfinden.
»Warum ißt du nichts?« fragte Pulal an einem Nachmittag. »Ich habe keinen Hunger.«
»Du bestehst bald nur noch aus Haut und Knochen.« Er legte eine Hand auf ihren Arm. Sie zuckte zusammen und zog sich vor der eisigen Todesberührung seiner Finger zurück. »Woran denkst du nur die ganze Zeit?« wollte er wissen, während er sich einen Becher frische Milch eingoß.
»Hört endlich damit auf, mir dauernd nachzulaufen«,
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