Kornmond und Dattelwein
hatte seine Wachsamkeit eingeschläfert. Allmählich schenkte er ihren Worten Glauben. Inanna stellte sich schon vor, wie sie in dieser Nacht unter einer Zeltwand nach draußen kriechen und fliehen würde. Es war beinahe Vollmond, so daß sie kaum Schwierigkeiten haben würde, den alten Pfad wiederzufinden. Und wenn sie die Hütte erreicht hatte, würde Enkimdu dort sitzen und sich Sorgen machen, sie könnte von Wilden überfallen oder von Raubtieren angegriffen worden sein. Vielleicht würde er sogar befürchten, sie hätte ihn verlassen. Wie glücklich würde er sein, sie wohlbehalten und munter vor sich zu sehen. Inanna stellte sich das Lachen auf seinem Gesicht vor, und wie er sie überglücklich in die Arme nehmen würde.
»Du siehst reichlich fett aus für eine junge Frau, die sich einen ganzen Winter lang nur von Eicheln ernährt hat«, schnarrte plötzlich eine Stimme. Tante Dug stand im Zelteingang und bedachte Inanna mit Blicken voller schlecht verborgener Feindseligkeit. Auf dem entsetzlich von Pockennarben entstellten Gesicht der alten Frau stand überdeutlich Groll zu lesen, und sie hatte die Hände grimmig entschlossen in die breiten Hüften gestemmt. Sie haßt die Vorstellung, Hursag mit einer jüngeren Frau teilen zu müssen, sagte sich Inanna, aber diesen Ärger hast du nicht sehr lange. »Raus hier, ihr alle, und zwar plötzlich«, herrschte Dug Hisim und die anderen an. »Die Frau hier hat noch viel Arbeit vor sich.«
Nachdem die Menge sich zerstreut hatte, stieß Dug Inanna eine Schüssel mit Nüssen in die Hände und befahl ihr, sie zu knacken. »Und wenn du damit fertig bist, mußt du Käse machen. Oder bist du dir für solche Arbeiten inzwischen vielleicht zu fein geworden?« Inanna konnte in diesem Augenblick nichts als Mitleid für die alte Frau empfinden. Hatte Tante Dug in ihrem ganzen langen Leben jemals so etwas wie Liebe erfahren? Menschen mußten ja verbittert und bösartig werden, wenn sie nach vielen Jahrzehnten niemanden gefunden hatte, der sich nett um einen kümmerte und um den man sich ebenso kümmern konnte.
»Na, worauf wartet unsere Prinzessin denn noch?« fuhr Dug sie an. Sie schob sich eine fettige Haarsträhne aus der Stirn und warf ein paar Stöcke ins Feuer. Und dabei murmelte sie unentwegt etwas vor sich hin. Später, als Hursag ins Zelt kam, beklagte sie sich bei ihm darüber, wie faul Inanna sei. »Ein Mann, der zwei Frauen hat, kann nicht von der einen erwarten, alle Arbeit allein zu tun«, beschwerte sie sich. Sie stützte die Hände aufs Steißbein und ächzte vernehmlich. Wenn ich hier noch lange leben müßte, dachte Inanna, würde ich diese Frau binnen kurzem zu hassen lernen. Aber was sollte sie darüber lange grübeln, sie brauchte die alte Hexe ja doch nur noch bis heute nacht zu ertragen.
Aber am späten Nachmittag befahl Pulal überraschend, die Zelte abzubrechen und weiterzuziehen. Vorsätzlich – so kam es Inanna zumindest vor – führte er den Stamm über einen Felsgrat in ein steiniges Tal, wo sie so gut wie keine Spuren hinterließen, und trieb sie immer weiter voran, bis die Tiere vor Erschöpfung immer öfter stolperten und es schon so dunkel war, daß man kaum noch erkennen konnte, wo man sein Zelt aufbauen sollte. In dieser Nacht, während die Frauen noch die Reste des Abendbrots abräumten, erschien Pulal mit seiner Mutter in Hursags Zelt. Enshagag trug ihr langes graues Haar offen, und sie brachte ein Bündel Decken mit.
»Ich bin gekommen, dich zu besuchen, Schwester«, begrüßte Enshagag Dug. Die Tante lächelte und reichte den beiden Gästen geröstete Nüsse.
»Möge es dir hier gefallen, Schwägerin«, sagte Hursag und gähnte hinter vorgehaltener Hand. Er streckte sich und bedeutete Inanna, ihm in den hinteren Teil des Zelts zu folgen.
»Ich denke, es ist für mich und dich an der Zeit, uns schlafen zu legen, meine Liebe«, sagte er und sah sie mit der alten Zärtlichkeit an. Der Greis war immer gut zu ihr gewesen, und einen Augenblick lang schämte sich Inanna dafür, ihn in dieser Nacht wieder verlassen zu wollen. Aber dann dachte sie wieder an Enkimdu, und ihr Entschluß festigte sich. Der Weg zurück würde nun nicht mehr ganz so einfach sein, aber Inanna hatte sich alle Wendungen und markanten Stellen gemerkt, so daß sie ohne Zweifel den alten Weg wiederfinden würde.
Aber Pulal hatte da seine eigenen Vorstellungen. Er trat zwischen Hursag und Inanna und packte sie am Arm. »Heute Nacht schläfst du bei ihr«, erklärte er
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