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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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zurückgekehrt sein sollte, würde die Tante sofort Alarm schlagen, und Pulal würde einen Trupp Männer aussenden, die untreue Schwester zu suchen. Am besten wartete sie noch ein paar Tage, bis sich alle nichts mehr dabei dachten, wenn sie allein das Lager verließ. Dann konnte sie sich immer noch unbemerkt davonschleichen. Sie legte sich das Trageseil ihres Sacks um die Stirn und lief durch die Viehgatter auf eine Gruppe von Eichbüschen zu, die etwas abseits vom Weg lagen.
    Als sie ein ganzes Bündel Äste zusammengesammelt hatte, wurde es bereits dunkel, und die Lichter der Kochfeuer widerspiegelten sich unten im Tal an den schwarzen Zeltwänden. Einen Augenblick lang blieb Inanna stehen und genoß den Anblick und das Gefühl, wieder ihr eigener Herr zu sein. Das Tal, in dem der Stamm an diesem Morgen sein Lager aufgeschlagen hatte, war breiter als üblich. Hunderte kleiner Wasserläufe ergossen sich wie weiße Wollfäden von der gegenüberliegenden Klippenwand. Am Fuß der steilen Felsen weideten rund um die Zelte unklar auszumachende Gruppen von Ziegen und Schafen. Und direkt über dem Tal schwamm ein einzelner Stern wie ein Fisch durch den Nachthimmel. Ein wunderbarer und friedlicher Abend. Inanna mußte daran denken – und dabei kam ein wenig Wehmut in ihr auf –, daß sie bald schon die Berge verlassen würde, vielleicht für immer. Sie stopfte das Bündel in den Sack, hing sich die Trageschnur um die Stirn und machte sich auf den Rückweg ins Lager. Wie lange mochte es dauern, bis der Mond wieder voll und rund war? Die erste Zeit wollte sie nur in der Nacht im Licht des Mondes laufen, und es wäre nicht ratsam, die engen und abschüssigen Bergwege im Dunkeln zu beschreiten. Der Gedanke an den Mond erinnerte Inanna an ein altes Lied, das ihr Lilith einmal vorgesungen hatte. Ein Lied über Nana, den Baby-Mondgott. Inanna suchte nach den Worten im Lied, als jemand sie von hinten packte und ihr eine
    Hand auf den Mund preßte. Inanna keuchte und wehrte sich, und der Tragesack rutschte ihr von der Stirn und rollte den Hang hinunter.
    Der Angreifer drehte sie zu sich herum, und sie erkannte ihn sofort. »Enkimdu!«
    Enkimdu preßte sie an sich und küßte sie hungrig auf Augen und Lippen. »Ich suche schon seit Wochen nach dir«, flüsterte er, »und dann habe ich dich hier entdeckt, aber du bist ja nie allein aus dem Lager gekommen. Große Heilige Göttin, wie oft habe ich dich dort unten im Tal zwischen den Zelten gesehen!« Er war dünner, als sie ihn in Erinnerung hatte, und sein Bart war gewachsen. Und irgendwie wirkte er älter. »Ich bin gekommen, um dich mitzunehmen«, erklärte er. »Willst du mitkommen?«
    Einen Augenblick lang brandeten die Gefühle in ihr so stark auf, daß sie kein Wort über die Lippen bekam. »Ich war schon auf dem Weg zu dir«, brachte sie endlich hervor. Enkimdu lächelte und umarmte sie wieder. Der Moschusduft seines Körpers begrüßte sie, und der saubere, scharfe Duft seines Bartes umfing sie. Ihr Schweigen verging, und die Worte purzelten ihr über die Lippen. Sie erzählte ihm in hastigen, erregten Sätzen, wie ihr Bruder Pulal sie gefunden und zur Rückkehr zu ihrem Ehemann gezwungen habe; wie Enshagag nachts an ihrer Seite schlief, um sie am Davonlaufen zu hindern; und sie erzählte ihm von Hursags Kraftlosigkeit, von Dugs Keiferei, von den Kranken, die sie geheilt hatte, und von den Nächten, in denen sie wach gelegen und sich gefragt hatte, ob Enkimdu über die westlichen Berge marschiert und in seine Heimatstadt zurückgekehrt war. Schließlich wollte sie auch von dem Kind in ihrem Bauch erzählen, hielt aber inne, als ihr klar wurde, daß sie diese Neuigkeit für später aufheben wollte, nachdem sie sich wieder in Liebe vereint hatten.
    »Ich dachte schon, du wärst ohne mich losgezogen«, sagte sie statt dessen und packte ihn fest an den Schultern.
    Enkimdu küßte sie und legte ihr sanft einen Finger auf die Lippen, um ihren Redestrom zu stoppen. »Wir müssen sofort aufbrechen«, sagte er und sah beunruhigt auf das Lager. Inanna drehte sich um und starrte auf den Kreis der schwarzen Zelte. Zusätzliche Lichter bewegten sich zwischen den Kochfeuern, und sie glaubte, Pulals Stimme zu hören, wie er ihren Namen rief. »Wenn ich jetzt mit dir gehe«, flüsterte sie bedrückt, »schicken sie unten sofort einen Suchtrupp nach mir aus.« Wie besorgt er sie ansah. Sie faßte seine Hände und küßte sie. »Warte noch, bis alle schlafen, dann schleiche ich mich aus

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