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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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Frau sie erst vor wenigen Tagen gerettet hatte. Inanna kam sich plötzlich ungeheuer einsam vor. Ihre Freunde, ihre Verwandten, der ganze Stamm war nun auf der Jagd nach ihr. Sogar die Kinder. Sie kroch hinter einen Felsen und streifte sich das Gewand wieder über, bevor sie zu den Eichenbüschen lief, bei denen Enkimdu auf sie hatte warten wollen.
    Die Äste der alten Bäume waren ineinander verwoben wie das Dach einer Hütte, und in ihren Schatten war es kalt und feucht. Inanna blieb stehen und ließ ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen, bis sie das entdeckt hatte, wozu sie hierher gekommen war. Dort lagen Enkimdus Besitztümer: ein Beutel mit Nahrungsmitteln, einige Flintsteine, der Speer und eine Decke aus Hasenfellen. Inanna nahm die Decke und faltete sie zusammen. Der Kummer war wieder in ihren Gedanken, als sie seine Dinge berührte, aber sie verdrängte alles Leid. Der Schmerz konnte sie vernichten. Morgen und an den folgenden Tagen blieb immer noch Zeit genug, Enkimdu zu beweinen. In dieser Nacht mußte sie vor allem an ihr Fortkommen denken. Der Morgenstern stand bereits am Horizont, und auf dem östlichen Himmel zeigte sich gefährlich die erste Helligkeit. Inanna spürte, wie die Tränen in ihre Augen stiegen. Tapfer kämpfte sie sie zurück.
    Sie hob Enkimdus Speer auf, wandte den Blick ab von den Zelten ihres Volks und machte sich auf die lange Reise nach Westen.
     

Die Taube
     
    Lanla ist die Gerste
    Lanla ist der Weizen
    Lanla ist die Datteln
    Die Oliven, der Sesam
    Milch und Honig strömen aus ihren Brüsten
    Wer vermag, alles an ihr zu preisen
    Lanla gibt uns Kinder
    Lanla gibt uns Leben
    Alles Gute kommt von Lanla...
     

    Geburtsgebet der Stadtmenschen
     
    Hut! Laß mich diesen Kampf gewinnen
    Hut! Laß mich meine Feinde töten
    Hut! Ich verspreche Dir Blut
     

    Kriegslied der Stadtmenschen
     

I
    Der Pfad breitete sich endlos vor ihr aus. Er verlor sich in Flußläufen und wand sich Abhang auf Abhang hinauf und hinunter, bis er sich in der purpurfarbenen Ferne verlor. Nachts, wenn die wilden Tiere heulten, war Furcht die Begrenzung des Pfads, ein Weg, der sie hinaufzog in die höchsten Berge, wo sie vor Kälte zitterte; ein Weg, der sie ins Tiefland hinabzerrte, wo der Boden ihr wie ein heißes Blech unter den Füßen brannte, bis sie keinen anderen Wunsch mehr verspürte, als sich irgendwo im Schatten hinzulegen, nie mehr laufen zu müssen, alles aufzugeben. Doch dann stand sie wieder auf, sah trotzig zur Sonne hinauf und folgte ihr bis zum Ende eines weiteren Tages. Sie fragte sich, wie lange sie schon unterwegs war und ob sie jemals ihr Ziel erreichen würde.
    An jedem Morgen spürte sie beim Erwachen, wie das Kind in ihr wuchs und wie ihr eigener Hunger gleichzeitig mitwuchs. Eine Handvoll roter Beeren, ein paar Vögel, die sie eines nachmittags, als sie länger als gewöhnlich Rast machte, in einer Schlinge fing, und ein Fisch, den sie mit Enkimdus Speer erlegte. Sie konnte sich hinterher nicht mehr entsinnen, wie sie in diesen Wochen überlebt hatte. Sie wußte nur noch, daß sie gelaufen war, immer weiter gelaufen und gelaufen und dabei vor Kummer dem Wahnsinn nahe.
    Jeder noch so kleine Augenblick, den sie und Enkimdu im Tal verbracht hatten, kehrte in ihr Gedächtnis zurück. Sie erinnerte sich an den ersten Tag seiner Krankheit, an die Stunden, die sie gemeinsam am Feuer verbracht und sich dabei unterhalten hatten, an ihre Liebesspiele und an ihre Streitereien. Kleinigkeiten quälten Inanna über alle Maßen. Einmal – bevor sie sich zum ersten Mal geliebt hatten – hatte er sie gebeten, ihm sein krankes Bein zu massieren, und sie hatte das abgelehnt; aus Angst davor, was aus einer solchen Berührung entstehen mochte. Diese Verweigerung suchte sie nun Nacht für Nacht heim, wenn sie auf einem Lager aus trockenen Blättern lag und nicht einschlafen konnte. Hatte er
    an jenem Morgen wirklich eine Massage gebraucht? Hatte sie ihn damit enttäuscht oder ihn im Stich gelassen? Tagelang grübelte sie darüber nach, wie dumm sie sich benommen hatte. Warum hatte sie nicht vorausgesehen, wie wenig Zeit ihnen vergönnt war? Warum hatte sie sich ihm nicht gleich hingegeben und jede kostbare einzelne Minute ihrer Liebe genossen? Warum hatten Angst und Unsicherheit sie solange aufgehalten, wo ihr Verstand doch schon gewußt hatte, daß sie sich mit ihm vereinen wollte? Nun war Enkimdu tot, war für immer von ihr gegangen, und es bestand für sie keine Möglichkeit mehr, ihn zu

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