Kornmond und Dattelwein
spielen würden, gewinnen und verlieren würden, bis am Ende jeder wieder seinen ursprünglichen Anteil in den Händen hielt. Durch die offene Zeltklappe sah sie, daß der Mond bereits untergegangen war. Wie verrückt suchte sie nach einer Möglichkeit, unbemerkt zu verschwinden. Verstohlen tastete sie nach der Zeltwand und prüfte, ob sie darunter herkriechen konnte ... dann rasch herumgerollt und davongeeilt . . . Nein, viel zu gefährlich. Binnen einer Minute wären sie wie ein Rudel wilder Hunde hinter ihr her.
Sie begab sich ins andere Ende des Zelts, legte sich auf ihr Lager und versuchte, ihre wachsende Nervosität niederzuringen. Vielleicht wenn sie so tat, als sei sie fest eingeschlafen, würden die drei auch auf die Idee kommen, daß es nun an der Zeit sei, sich zur Ruhe zu begeben. Inanna schloß die Augen und zog sich die Decken übet den Körper. Darunter war sie vollständig bekleidet. Am Gürtel hingen ihr Messer und die Kräutertasche, in einer anderen Tasche war der Flintstein, und griffbereit lag neben ihr ein Beutel mit Nahrungsmitteln. Sie hatte sogar die Sandalen anbehalten, damit sie sofort aus dem Zelt konnte, sobald Dug eingeschlafen war, und keinen weiteren Augenblick mehr zu verlieren brauchte.
Aber vorne ging das Spiel ununterbrochen weiter. Endlos klickten
die Spielsteine, und hin und wieder murmelte eine der beiden Frauen etwas, wenn sie mehr als erwartet verloren oder gewonnen hatte. Das Feuer schmolz auf ein trübes Glühen herunter, aber niemanden schien es zu interessieren, neues Holz nachzulegen. Es war stickig und warm im Zelt, und Inanna wurde der Kopf schwer. Aber sie mußte sich wachhalten, durfte es nicht zulassen, im letzten Augenblick einzuschlafen ...
Jemand schüttelte sie. Inanna kreischte und schlug in der Dunkelheit um sich.
»Inanna.«
Sie öffnete die Augen und sah Enkimdu, der vor ihr hockte und ihren Namen flüsterte. »Inanna, wach auf!« Später, nachdem alles vorüber war, wurde ihr klar, daß er bis kurz vor Morgengrauen gewartet hatte und dann, weil er sich sagte, etwas müsse ihr zugestoßen sein, ins Lager geschlichen war. »Beeil dich«, flüsterte Enkimdu und riß sie hoch. Seine Finger umschlossen ihre Handgelenke, während sie sich abmühte, aus dem Gewirr der Decken zu kommen. Aber da war es schon zu spät. Aufgeschreckt von Inannas Schrei, kreischte Dug Alarm und brüllte, ein Fremder sei im Zelt.
»Hilfe! Mörder! Diebe! Wilde!«
Inanna hörte, wie Hursag sich im hinteren Zeltteil regte und wie draußen Füße liefen. Während sie noch gegen ihre Müdigkeit ankämpfte, fiel ihr wieder ein, wie Zu ausgesehen hatte, als der Speer ihn zwischen den Schulterblättern getroffen hatte. Sie packte Enkimdus Arm, um sich Halt zu verleihen, und roch den scharfen, sauberen Duft seines Barts. Wenn sie nicht sofort etwas unternahm, würde er sterben.
»Lauf fort!« Sie schob ihn so kräftig wie möglich zur Zeltklappe. Ihr Mund wurde vor Panik ganz trocken, als sie daran denken mußte, allein zurückzubleiben. Aber der Verstand sagte ihr, zusammen würden sie nie aus dem Lager entkommen. Wenn sie zurückblieb und Pulal auf eine falsche Fährte lockte, konnte Enkimdu vielleicht vor Zus Schicksal bewahrt bleiben. Aber in der Dunkelheit griff Enkimdu ihren Arm und zog sie hinter sich her zum Ausgang. Er stolperte über einen Fellstapel.
»Nein, wir gehen zusammen«, zischte er. Inanna konnte sein Gesicht nicht ausmachen, aber sie wußte, daß er wieder diese sture Miene trug, wie sie sie so oft im vergangenen Winter erlebt hatte. Dieser Gesichtsausdruck, der besagte, daß er jetzt zu keinerlei Kompromissen bereit war. Er wollte sie hier nicht zurücklassen. Er würde auf sein eigenes Schicksal keine Rücksicht nehmen.
»Enkimdu ...« bat Inanna. Aber bevor sie weitersprechen konnte, war das Zelt voller Licht. Pulal rannte auf die beiden zu und stieß den Kriegsruf aus, den er in der Schlacht von sich gab, sobald er sich auf einen Feind stürzte. In der einen Hand hielt er eine brennende Fackel und in der anderen seine kupferne Axt. Die Flammen der Fackel zauberten sonderbare Schatten auf Pulals Gesicht und verzerrten es in eine Tierfratze mit gräßlich grinsenden Zahnreihen. Mit einer einzigen Bewegung, so rasch, daß Inanna kaum folgen konnte, schob Enkimdu sich vor sie und riß gleichzeitig das Messer von seinem Gürtel.
Pulal warf einen kurzen Blick auf das kleine Knochenmesser, und sein Grinsen verwandelte sich in etwas unsagbar Grausames. Er hielt
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