Kornmond und Dattelwein
berühren und ihm zu sagen: »Es tut mir leid.« Enkimdu war gestorben, ohne das geringste von ihrem gemeinsamen Kind zu wissen. Manchmal blieb Inanna mitten im Marsch stehen, legte sich eine Hand auf den Bauch und dachte: Auch dabei habe ich ihm gegenüber versagt. Danach setzte sie ihre Wanderung fort, aber das Herz war ihr schwer.
Wie lange dauerte ihre Reise? Wochen? Monate? Sie wußte nur noch, daß sie gegen Ende des Sommers mitten in der Nacht aus einem tiefen Schlaf erwachte. Der Mond am Himmel war voll und rund und überströmte den Himmel mit seinem Licht. In einiger Entfernung ragten drei tote Tamarisken wie blanke Knochen aus dem Boden. Neben ihr lag ihr eigener Schatten. Dünne Arme und ein dicker Bauch waren die markantesten Merkmale ihrer Silhouette. Als erstes fiel ihr dann die Stille auf. Die Welt schien den Atem anzuhalten, so feierlich still war es. Überall um sie herum bildete das Mondlicht kleine Pfützen auf den Felsen und bedeckte die Blätter der Pappeln wie mit einem Eismantel. Die Luft war warm und voller fremdartiger Gerüche: Jasmin, Wildrosen und irgendwo ganz weit fort der Duft von frischem Wasser. Inanna spürte, wie der Mond sie hochzog. Seine Energie füllte ihren Körper aus.
Ruhelos wanderte sie eine Zeitlang um ihr Lagerfeuer, band dann abrupt ihr Bündel zusammen und warf es sich über die Schulter. Die Decke aus Hasenfell, der Speer, die Kräuter, die Nahrungsvorräte, die Flintsteine. Sie wollte ihre Wanderung fortsetzen und das helle Mondlicht nutzen, solange er so hoch am Himmel stand. In der Hitze des nächsten Tages blieb ihr immer noch Zeit zum Ausruhen. Inanna trat das Feuer aus, drehte sich um und mühte sich den Hang hinauf. Und zum ersten Mal seit langem dachte sie an nichts Besonderes.
Als sie einige Zeit unterwegs war, ließ sie sich auf einem Sandhaufen nieder und trank Wasser aus einem nahen Teich. Es war lauwarm und schmeckte modrig und schal. In einem Busch zirpte eine Zikade so gemächlich, daß es sie an Hursags Schnarchen erinnerte. Einen Augenblick lang überkam sie das Heimweh, und kurz gestattete sie sich den gefährlichen Luxus einiger Gedanken an die schwarzen Zelte, den Geruch der Kochfeuer und der Kinder, die zwischen den Menschen und Tieren herumtollten. So als wären das immer noch Inannas Volk und Heimat. Aber dann schob sich Enkimdus Gesicht in ihre Gedanken, und zum hundertsten oder vielleicht auch zweihundertsten Mal stand sie auf und marschierte weiter.
Der Hang des nächsten Hügels war besonders steil, und der Pfad verengte sich bedenklich. Ein- oder zweimal wäre sie fast abgestürzt, und sie konzentrierte sich so sehr darauf, Fußstützen zu finden, daß sie es kaum bemerkte, als sie den Gipfel erreicht hatte. So wurde sie unerwartet vom Wind gepackt, der plötzlich auf sie einstürmte und sie fast von den Füßen gerissen hätte. Nicht der steife und scharfe Wind der Berge, der sich auch in die engsten Schluchten wand und schob und nur vor massiven Granitwänden Halt machte, sondern ein weiter, offener Wind von der Art, wie er über ein Meer weht oder über eine Ebene pfeift. Inanna hielt sich an einer Felskante fest, um sich Halt zu verleihen und sah den jenseitigen Abhang hinunter. Zunächst ergab der Anblick für sie überhaupt keinen Sinn. Es war so, als würde man in den Himmel sehen oder in eine gewaltige und flache Leere. Doch dann wurde ihr von einem Moment zum anderen klar, daß sie endlich das Ende ihrer Wanderung erreicht hatte.
Sie warf ihr Bündel ab und schrie vor schierer Freude. Das Flußdelta! Und dort, am Flußufer lag die Stadt, genau so wie Enkimdu es beschrieben hatte! Erst am nächsten Morgen erkannte sie, daß die Mauern mit weißem Lehm verputzt waren. Jetzt, im Mondlicht, wirkte der glänzende Kreis der Stadt wie ein Gebilde aus einem Traum, wie eine große, scheinende Scheibe; so als habe jemand den Mond selbst eingefangen und am Boden festgebunden. Inanna stand nur da, spürte ihren Körper nicht mehr und ließ sich von der Schönheit dieses Anblicks erfüllen. Nach langer Zeit zog sie sich endlich hinter einen Felsen zurück, wo es etwas wärmer war.
In dieser Nacht hatte Inanna einen sonderbaren Traum. Da stand sie auf einem Höhenzug, trug eine Rüstung, wie sie sie noch nie zuvor gesehen hatte, und hörte eine Stimme aus der Dunkelheit, die sie zum Kampf verleiten wollte. Die Stimme klang boshaft und voller Tücke, und Haß strömte ungehemmt daraus hervor. Aber als Inanna vortrat und nach dem
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