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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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unsichtbaren Gegner suchte, fand sie niemanden. Nur eine leere Wiese voller schwarzer Felsen, hoher gelber Blumen und überall Blut ...
     
    Zwei Stadtmauern, ein Kreis innerhalb eines anderen Kreises, und darin, im Zentrum, die Stadt selbst. Kuppelartige Dächer, übereinander geschachtelt wie bei einem Termitenbau. Am nächsten Morgen stand Inanna lange auf dem Hügel und nahm alles in sich auf : Dattelpalmen, Terrassen, ein grüner Fleck hoch oben – offensichtlich ein Dachgarten –, enge Straßen, die sich wie die Fäden in einer Vogelschlinge hin und her wanden. Zwei gewaltige Gebäude erhoben sich deutlich über die anderen und waren mit merkwürdigen Symbolen bemalt und verschönt. Boote geformt wie Tassen trieben auf dem Fluß, und auf den Weiden grasten Tiere entlang den Bewässerungskanälen.
    Im Tageslicht wurde deutlich, daß die breiten Kreise der Stadtmauern nicht eben fest und solide waren. Geröll und Steine füllten große Lücken. Ganze Teile in der Innenmauer waren eingestürzt oder fehlten völlig. Kümmerte sich denn dort niemand darum? Hatten sie keine Angst vor einem Angriff? Inanna blickte über die Ebene auf die Haufen von Lehmhäusern, die das Flachland unterbrachen. Das waren Dörfer, Menschenansiedlungen, die ihr Verstand fassen konnte. Aber ein Riesengebilde wie die Stadt? Was mußten das für Menschen sein, die es sich erlauben konnten, ihre eigene Sicherheit so zu vernachlässigen? Etwas Großartiges, Erhabenes ging von diesem Verfall aus, eine majestätische Sorglosigkeit, so als würde es den Bewohnern der Stadt im Traum nicht einfallen, sich vor den Wilden oder anderen feindseligen Scharen zu fürchten. So als wollten sie damit der Welt zurufen: »Wir sind schon immer hier gewesen, und ohne daß wir uns dafür besonders anstrengen müßten, bleiben wir hier auch bis ans Ende der Zeit.« Inanna fuhr sich nervös mit den Fingern durchs Haar. Wie würden die Stadtmenschen sie empfangen? Vielleicht würden sie sie töten, bloß weil sie eine Fremde war. Oder – schlimmer noch – sie würden sie in die Stadt lassen, weil sie sie gar nicht bemerkten. Inanna zog den Stöpsel aus dem Wasserschlauch, nahm einen tiefen Schluck und schüttete sich etwas von dem Naß auf Hände und Gesicht. Selbst von der Anhöhe konnte sie erkennen, daß es im Delta heiß wurde. Wabernde Hitzewellen stiegen spiralförmig hoch, und der Boden unter Inannas zerschlissenen Sandalen wurde bereits unangenehm warm. Kleine Gestalten erschienen auf den Wegen, die durch die Felder liefen. Die Stadt erwachte. Inanna beobachtete sie, diese winzigen Puppen, die kaum größer waren als ihr Daumen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als hinunterzugehen, sich ihnen zu präsentieren und auf das Beste zu hoffen. Inanna warf sich ihr Bündel über den Rücken und begann den langen Marsch zum Fluß.
    Als die Sonne am Himmel höher stieg, klebte Inanna das wollene Gewand bald unbehaglich am Körper, und der Staub stach ihr in die Augen. Ihre Kleider und überhaupt nichts an ihr waren für dieses warme Land gemacht. Der Weg unter ihren Füßen verbreiterte sich allmählich, aber bis auf den einen oder anderen gelegentlichen Geier am Himmel zeigte sich hier kein Anzeichen von Leben. Wo waren die Stadtmenschen denn alle? Warum war ihr noch niemand entgegen gekommen? Ein sonderbares Gefühl machte sich in ihr breit, als sie ganz allein über den Weg lief, so als sei sie der einzige Mensch auf der Welt.
    Staub, Hitze, noch mehr Staub und noch mehr Hitze. Am Vormittag erreichte sie eine Senke, in der sehr viele Olivenbäume wuchsen. Froh und erschöpft legte sie sich dort in den Schatten. Kühle Schatten, überhängende Äste, Stämme, die kreisförmig standen und sich wie angriffslustige Schlangen nach oben reckten. Sie sahen sehr alt aus. Über Inannas Kopf hingen dicke und fette grüne Oliven in großen Trauben. Irgendwo gurrten frohe Tauben. Über der Senke schimmerte die Sonne wie glutflüssiges Metall vom Himmel, und der Widerschein von den Felsen machte einen fast blind. Die große Hitze des Tages kam aber erst noch.
    Inanna streckte sich und dachte an Schlaf, aber das war ihr dann doch zu gefährlich. Vom Weg aus war sie leicht zu entdecken, und hier gab es nichts, wohinter sie sich hätte verstecken können, nicht einmal ein Stein. Nur Staub, Olivenbäume und Schatten. Inanna beschloß weiterzumarschieren, aber da fesselte ein Geräusch ihre Aufmerksamkeit. Über ihr stritten sich zwei Tauben über irgend etwas. Ein Nest.

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