Kornmond und Dattelwein
Enkimdu! Inanna wandte sich ab und schloß die Augen. Doch als sie sie wieder öffnete und zu dem Soldaten hinabsah, kam ihr die Ähnlichkeit noch stärker als vorhin vor.
»Wenn es einen Fluch als Strafe dafür gibt, sie zu berühren«, erklärte Seb und zeigte auf die kranke Greisin, »dann will ich ihn auf mich nehmen. Ich kann es einfach nicht länger ertragen, sie so leiden zu sehen, ohne daß ihr jemand Trost spendet.«
»Gut, dann will ich dir dabei helfen.«
»Aber der Befehl!«
»Zu den Pforten der Hölle mit diesem Befehl! Ich kann es auch
nicht länger mit ansehen.« Lyras Arm glitt ihm über die Schulter. »Wir wollen beide den Fluch auf uns nehmen.« Die beiden Soldaten gingen zu der Kranken und hockten sich neben sie hin.
»Ach, stirb noch nicht, liebe Frau«, sagte Seb unendlich sanft, legte den Kopf der alten Frau in seinen Schoß und streichelte ihr das schweißdurchtränkte Haar.
»Komm zurück zu uns«, bat Lyra. »Erinnere dich an das Gute in dieser Welt. Verlier dich nicht in Huts Höhlen. Entsinne dich deiner Familie und all deiner Freunde, die dich lieben.«
Die Greisin schien die beiden wahrzunehmen. Sie rührte sich und hob die Arme, so als suche sie nach Hilfe. An ihrem Handgelenk wackelte einen Moment lang ein roter Reif, bevor er zu Boden fiel. Nein, das war eine Viper, die sich windend zu den Wurzeln eines Olivenbaums glitt. Jetzt wußte Inanna, was der Alten fehlte: Sie starb an einem Schlangenbiß!
Inanna mußte sich die Sache aus der Nähe ansehen. Vorsichtig balancierte sie zwischen den Ästen, doch dabei verfing sich ihr Fuß in dem Bündel und trat es beiseite. Rasch und verzweifelt griff sie danach, bekam es aber nicht mehr zu fassen. Laut und dumpf fiel das Bündel auf den Boden. Einen Moment später fuhr ein Speer nur wenige Fingerbreit von ihrem Gesicht entfernt in den Baumstamm. Inanna sah hinunter und sah, daß Lyra die Axt von ihrem Gürtel gelöst hatte und Seb mit erhobenem Speer über der alten Frau stand.
»Komm herunter und stirb!« schrie Lyra und schwang bedrohlich die Axt. »Zeig dich, Feigling!«
Inanna brachte soviel vom Baumstamm zwischen sich und die beiden Krieger, wie es ihr nur eben möglich war. »Ich bin Inanna, Tochter von Cabta und Gemahlin des Hursag vom Stamme Kur«, rief sie in der Sprache der Stadtmenschen. »Und ich komme in Frieden!« Sie warf einen kurzen Blick auf den Speer, der neben ihr im Holz noch zitterte. »Ich will niemandem etwas zuleide tun«, fügte sie rasch hinzu.
Als die beiden sie in ihrer Sprache reden hörten, ließen sie die Waffen sinken. Die dunkelhäutige Frau trat an den Baum heran und spähte durch die Blätter. »Heilige Göttin, da ist ja eine Frau mit Kind im Bauch!« Sie teilte die Zweige und betrachtete Inanna neugierig. »Du da oben«, rief sie, »verlangst du Asyl?«
»Was verlange ich?«
»Verlangst du Asyl? Jede Frau mit einem Kind im Bauch kann sich unter den Schutz der Göttin stellen. Möchtest du das, oder nicht?« »Was passiert denn, wenn ich mich unter den Schutz der Göttin stelle?«
Lyra lächelte. In ihrer obersten Zahnreihe war eine Lücke. »Dann töten wir dich nicht.«
»Gut, dann stelle ich mich unter den Schutz der Göttin«. rief Inanna rasch.
Die Kriegerin verhakte die Axt wieder an ihrem Gürtel und bedeutete Seb, den Speer zu senken. »Komm herunter. Mein Bruder und ich werden dir nichts tun.«
Inanna kletterte langsam den Baum hinunter. Sie konnte sich nicht dagegen wehren, die ganze Zeit über die Speerspitze in ihrem Rücken zu spüren. Wollten die beiden erst abwarten, bis sie festen Grund erreicht hatte, um sie dann zu töten?
»Wo kommst du her?« Lyra sah auf Inannas dicken Bauch. Ihre Miene war nicht mehr streng und fast schon freundlich.
»Ich komme aus den Bergen.« Inanna ließ sich von Lyras Blick nicht einschüchtern. Sie nahm sich vor, sich keine Angst anmerken zu lassen.
»Seb«, sagte die Kriegerin, »hast du das gehört? Sie kommt aus den Bergen.«
»Ja, aber dann ...« begann Seb, doch da unterbrach ihn die kranke Alte mit lautem Stöhnen. Sofort kniete er neben ihr und nahm ihre Hand in die seine. Tiefer Schmerz war auf seinem Gesicht. Und auch Inanna fühlte Schmerz, als sie ihn so leiden sah. Und das kam ihr lächerlich vor, sie kannte den Burschen ja überhaupt nicht. Inanna zwang sich, ihn und seine Züge genau zu studieren und sich alle Abweichungen von Enkimdus Aussehen genau einzuprägen. Ja, der Mund war etwas anders geformt, und das Haar war dichter.
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