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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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Und erst der Kopf. Dieser Mann hielt seinen Kopf auf
    eine Weise, die absolut nichts mit Enkimdu gemein hatte. Seine nackten Beine waren glatt. Nirgendwo das Anzeichen einer Wunde, wie sie sie bei Enkimdu geheilt hatte. Nein, dieser Krieger dort und sie selbst hatten nichts von einer gemeinsamen Vergangenheit. Es war nur ein erster flüchtiger Eindruck gewesen, irgendein dummer Streich, den ihr ihre Phantasie gespielt hatte. Seb rieb die Handflächen der alten Frau und zog ihr die Decke über die Schultern, um sie warm zu halten. Am geschwollenen Handgelenk glitzerten die Male des Schlangenbisses wie zwei kleine Rubine. »Wer ist sie?« fragte Inanna.
    »Das darf ich nicht sagen. Das ist ... ist verboten.« Lyra geriet ins Stottern.
    »Was ist verboten?«
    »Ihren Namen auszusprechen.« Lyras Miene war eine Mischung aus Rechtfertigung und Entschuldigung. »Hier hat sie keinen Namen.«
    Inanna begab sich an die Pritsche und legte der Alten eine Hand auf die runzlige Stirn. Die Haut war kalt und feucht. Die alte Frau lag im Sterben. Ganz plötzlich, noch bevor Inanna ihre Hand zurückziehen konnte, strömte Energie ihren Arm hinauf. Ein blendendes Licht blitzte in ihrem Kopf auf, versengte ihren Blick, und ihre Handfläche brannte, als hätte sie in glühende Kohle gegriffen. Dann war alles wieder vorbei, so rasch wie ein kurzer Sommerblitz, der nur eilig über den Himmel zuckt.
    »Was stimmt nicht mit dir?« fragte eine Stimme. In ihrer Verwirrung glaubte Inanna zunächst, Enkimdu vor sich zu sehen. Aber es war nur Seb. Wende deinen Blick ab von mir, Fremder, dachte sie, und laß mich in Ruhe! Erinnere mich nicht ständig an den toten Geliebten! Unter ihrer Hand bewegte sich etwas. Dabei hielt sie sie immer noch auf die Stirn der Alten gepreßt.
    »Ich kann sie retten.« Die Vision hatte auf Inannas Zunge den Geschmack einer seltenen Frucht zurückgelassen. Sie wußte, daß diese die Kraft hatte, Vipernbisse ungefährlich zu machen. »Macht ein Feuer.« Inanna begriff nie, warum die beiden ihr sofort gehorchten. Schließlich war sie nichts weiter als irgendeine Fremde für sie. Vielleicht aus dem Grund, weil ohnehin keine andere Möglichkeit zur Rettung der Greisin vorhanden war.
    Der Geruch von brennendem Holz erfüllt die Senke. In den Olivenbäumen gurrten die Tauben zärtlich einander zu, und die Blätter rauschten sanft, daß es wie perlendes Wasser klang. Inanna zog das Messer aus ihrem Gürtel, machte rasch vier Schnitte an jeder Seite des Schlangenbisses und saugte das Gift aus. Die Heilkraft in ihr erwachte zum Leben, drang bis in ihren Hals vor, nahm ihr alle Furcht und beschützte sie vor dem Gift. Eine kleine Wunde im Mund, ein Kratzer auf der Lippe, und das Todesgeschenk der Viper würde auch ihr zuteil. Aber sie wußte, daß ihre Kraft sie davor bewahrte. In ihrer Hand pulsierte der Stern, und der Gedanke an den Tod verging wie eine Welle am Strand. Jetzt kam es nur noch auf den Heilungsprozeß an. Nichts anderes war mehr wichtig auf der Welt.
    »Kann ich dir helfen?« fragte Seb.
    »Du kannst Wasser kochen«, erklärte Inanna, ohne zu ihm aufzusehen. Die Kranke war noch immer nicht recht bei Bewußtsein. Wenn sie die Augen jetzt schloß, würde sie sie vielleicht nie wieder öffnen. Inanna sah, wie die Lider flatterten und sich senkten. »Wach auf!« Sie schlug auf die verfärbten Wangen. Hinter ihr tauschten Seb und Lyra Blicke aus, aber Inanna bekam nichts davon mit. Sie sah nur die alte Frau, das geschwollene Gesicht, das schweißgetränkte Haar. Und dann öffneten sich die Augen. Neben ihr stand plötzlich ein Topf mit kochendem Wasser. Inanna griff in ihre Tasche und holte Ysop, getrocknete Zwiebelblüten und Klee heraus. Es kam ihr vor wie ein Tanz. Sobald man mit den richtigen Bewegungen begann, kam der Rest von ganz alleine.
    »Bist du eine Heilerin?« fragte Lyra.
    »In gewisser Weise.« Die Blätter und Blüten zerkrümeln und ins heiße Wasser geben. Wie süß alles roch. Erst eine leichte Verfärbung, dann eine dunkle Brühe, und jetzt war das Gebräu fertig. Sie tauchte einen Lappen sauberen Tuchs in den Topf und wusch damit die Wunde aus. Wegerichblätter zu einem Brei zerkauen. Dann auf die Wunde auftragen, aber nicht direkt darauf, sondern nur an den Rändern. Und jetzt äußerste Sorgfalt. Inanna hockte auf ihren Füßen und betrachtete voller Befriedigung ihr Werk. »Ich brauche mehr Wasser.«
    »Laß mich das erledigen.« Im Augenwinkel sah Inanna, wie Lyra zum Bach lief, ihren Helm

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