Kornmond und Dattelwein
Barren Silber für eine solche Behandlung verlangt. Also, was willst du dafür?« Drei Barren Silber! War der Greisin der Verstand eingetrocknet, oder was ging hier vor? »Also«, sagte die Tante hartnäckig, »nenne deinen Preis. Was willst du dafür haben, mich aus dem Schattenreich zurückgebracht zu haben, Inanna?«
»Nun ...« Inanna dachte an all das, was sie wohl beanspruchen konnte, entschied sich dann aber für das, was sie am dringendsten brauchte. »Ich hätte gern für diese Nacht einen Platz in der Stadt, an dem ich schlafen kann, wenn das nicht zuviel verlangt ist.«
»Du willst ein Nachtlager?« Die Greisin legte den Kopf schief und sah das Mädchen streng an. »Nur ein Nachtlager und keinerlei Bezahlung für die Behandlung?« »Meine Leute nehmen nie etwas dafür, jemandem geholfen zu haben.« Inanna wollte noch etwas über die Macht in ihr sagen, die ihr nicht gehörte, sondern nur dann und wann in ihr erwachte. Aber auf einmal war alles so kompliziert zu erklären. »Ich habe gern geholfen«, sagte sie schließlich. »Und wenn in der Stadt kein Platz für mich ist, kann ich auch ...«
»Lyra!« Ein einziges Wort nur, rasch wie der Flug eines Pfeils, durchbrach ihre Erklärungen. Die Alte zeigte auf Inanna. »Bring dieses Mädchen zum Haus deiner Mutter und sorge dafür, daß sie alles erhält, was sie braucht.«
»Ja, Tante.« Lyra salutierte mit dem Schaft ihres Speers an ihre Stirn.
»Seb.«
»Ja, Tante?«
»Du bleibst bei mir.« Die Alte wandte sich wieder an Lyra und seufzte. »Sag den anderen, daß die heilige Schlange, die uns Botschaften von Lanla bringt, fort ist, zurückgekehrt ist in ihre unterirdischen Höhlen. Sie können jetzt zum Olivenhain kommen und mich holen.« Mit einem mal wirkte die Alte sehr müde.
»Ja, Tante«, sagte Lyra und salutierte wieder. Die Greisin hustete in ihren Ärmel und sah dann auf Inanna.
»Keine Bezahlung für die Behandlung?«
»Nein«, sagte Inanna.
»Wie sonderbar«, sagte die Alte. »Sehr ungewöhnlich, aber auch sehr schön. Ich denke, Lanla würde das gefallen.«
Noch Jahre später träumte Inanna von dem Tag, an dem sie mit Lyra zum ersten Mal in die Stadt kam. Dann sah sie wieder die gewaltigen, durchbrochenen Mauern, die hoch vor ihnen aufragten, das dunkelbraune Treiben des Flusses, die fetten Vögel, die sich auf den Befestigungsanlagen sonnten und die Eidechsen, die aus dem Schutt und dem Geröll äugten. Sie sah wieder die Frauen, die bis zur Hüfte nackt waren und Fischnetze ans Ufer zogen; die Händler, die Gewänder trugen, wie sie einem Häuptling zustanden; die bunten Färberküpen; die Haufen von getrockneten Datteln und die Melonenberge; sie erinnerte sich wieder an die Händler aus so vielen fernen Ländern, die sich alles mögliche zuriefen, das so fremdartig wie das Geschnatter exotischer Vögel klang; an die Soldaten in ihrer Lederrüstung, an die Priesterinnen mit den hohen Hüten, an die barfüßigen Kinder, die Bretter voller Süßigkeiten trugen. Und an den Geruch von Verfall, so betörend und subtil wie ein Parfüm. Beim Aufwachen war ihr besonders dieser Geruch noch präsent. Schon damals, noch bevor sie durch das Tor getreten war, hatte sie gewußt, daß die Stadt im Sterben lag. Lyra war mit ihr durch das Haupttor getreten und führte sie nun über eine breite, mit Steinplatten belegte Straße. Vor einem hohen Ziegelsteingebäude, das mit roten und blauen Fliesen verziert war, blieben sie stehen. Das Gebäude stand auf einer Erderhöhung, zu der eine breite Treppe hinaufführte. Jede Stufe war so breit wie die Länge eines ausgewachsenen Mannes. »Das ist der Tempel«, erklärte Lyra. Inanna sah sich sofort neugierig nach den
Lants
um. Nun erhielt sie endlich die Gelegenheit, die verderbten Frauen in Augenschein zu nehmen, die sich, wann immer sie wollten, einen Geliebten nahmen, ohne daß ein Bruder oder ein Vater energisch dazwischentrat. Aber alles, was sie entdeckte, waren ein paar alte Leute, die sich auf den Stufen sonnten, und ein Junge mit einem Käfig voller Tauben in der Hand. Enttäuscht drehte Inanna sich um und eilte Lyra nach, die schon fast in der Menge verschwunden war.
Bald wurden die Straßen enger und waren auch längst nicht mehr gerade. Die Steinplatten auf ihnen waren von endlosen Generationen von Passanten reichlich ausgetreten. Die Häuser hier waren rund und aufeinandergebaut wie bei einem Bienenkorb. Und die Frauen: Inanna hatte noch nie so viele von ihnen gesehen, ganz zu schweigen
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