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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Mackey
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ins Wasser tauchte und damit vorsichtig zum Feuer zurückkehrte. »Du bist eine Heilerin.« Respekt war in ihrer Stimme, und fast so etwas wie Ehrfurcht.
    Als das Wasser zum zweiten Mal kochte, warf Inanna einige kleine, bitter schmeckende Beeren hinein. Ein scharfer, unangenehmer Geruch stieg aus dem Wasser, und etwas Schaum bildete sich auf seiner Oberfläche. Inanna dachte an ihre lange Reise nach Westen, an die kalten Nächte und an die Male, wo sie die gleichen Beeren zu sich genommen hatte, um wach und am Leben zu bleiben. Zwei oder drei davon in einen Becher Wasser, und man konnte einen ganzen Tag lang marschieren, ohne Hunger zu haben oder sich ausruhen zu wollen. Vielleicht nahmen ja sogar die Götter solche Beeren zu sich. Wenn sie nur nicht einen so furchtbaren Geschmack hätten. Inanna fragte sich, ob sie die Alte dazu bekommen würde, diesen üblen Sud zu schlucken.
    »Hebt ihren Kopf an«, befahl sie. Mit unübersehbarer Zuneigung berührte Seb die Frau und hielt ihren Kopf in seinen Armen, während Inanna etwas von der Flüssigkeit auf die Lippen der Alten träufelte. Die Greisin hustete und wollte den Kopf wegdrehen, aber Inanna hielt sie am Kinn und zwang mehr von dem Sud über ihre Lippen. Während sie noch schluckte, erschienen zwei Farbtupfer auf ihren Wangen, und sie fing an, rascher zu atmen. Inanna fühlte das Handgelenk der Kranken und spürte, wie der Puls länger schlug, so rasch wie bei einem Läufer, der gerade ans Ziel gekommen ist. Und ein Rennen gegen den Tod war es ja auch gewesen.
    Dann öffnete die alte Frau die Augen und sah zu Seb hinauf. »Ich bin nicht tot? Die Gute Göttin Lanla hat mich also nicht zu sich geholt?« »Nein, Tante.« Seb drückte ihre Hand, und die Kranke lächelte ihn freundlich an. Etwas überraschend Ruhiges ging von ihrem Gesicht aus, so als hätte die Vorstellung, sterben zu müssen, überhaupt keinen Schrecken für sie. Inanna betrachtete Seb und Lyra. Die Freude auf ihrem Gesicht war ehrlich und deutlich. Warum hatten sie ihr nicht sagen wollen, daß die alte Frau eine Verwandte von ihnen war? Sie liebten sie doch offensichtlich viel zu sehr, um sich ihrer Armut oder Heruntergekommenheit zu schämen.
    »Ich gehe jetzt zu den anderen zurück«, erklärte Lyra. Sie nahm die Hand der Tante und drückte sie herzlich. »Wir müssen dich bald von hier fortbringen.« Als Lyra ihren Schild aufhob, fiel das Sonnenlicht darauf. Die Silhouette einer nackten Frau war auf das Kupfer gemalt. Sie hielt eine Schlange an die Lippen, ihre Füße waren Vogelkrallen, und statt Brüsten trug sie Fangzähne. Wo hatte Inanna ein solches Abbild schon einmal gesehen? Dann fiel es ihr wieder ein. Enkimdu hatte ihr eine solche Frau einmal mit einem Stock in den Boden gezeichnet. Das Bild sollte wohl Hut, die Göttin der Dunkelheit darstellen.
    Seb bemerkte Inannas Blick und räusperte sich umständlich. »Lyra hat sich der Dunklen verschrieben, ich aber verehre das Licht.«
    »Das ist dein Problem«, entgegnete Lyra. Kein Ärger schwang in ihrer Stimme mit, sondern vielmehr ein Tonfall, der darauf schließen ließ, daß dieser Streit schon sehr alt sein mußte und jedes Wiederaufleben desselben überflüssig war.
    »Lyra! Seb!« fuhr die alte Frau dazwischen. Die beiden blickten schuldbewußt zu Boden; wie zwei Kinder, die beim Streit über eine Süßigkeit ermahnt worden waren. »Ich wünsche Frieden in meiner Familie.«
    »Ja, Tante.« Lyra krümmte beschämt die Schultern.
    »Ja, Tante«, ertönte es kleinlaut von Seb.
    Die alte Frau war wohl doch keine Bettlerin, die von den Resten lebte, die von den Tischen ihrer reichen Verwandten fielen. Aber wer war sie dann?
    »Setzt mich aufrecht hin«, befahl die Tante, und als sie gegen einen Baumstamm lehnte, bedeutete sie Inanna mit einer Handbewegung näherzukommen. »Wer bist du, Mädchen?«
    Plötzlich kam es Inanna so vor, als hätte sie Blei in den Knien. Ihre Kehle war wie ausgedörrt, und ihre Zunge schien am Gaumen festgebunden zu sein. Was wollte die Alte von ihr?
    »Deinen Namen, Mädchen?« wollte die Frau wissen. Sie lächelte, so als amüsiere sie Inannas Verwirrung.
    »Inanna.«
    »Nun, Inanna, du hast mir das Leben gerettet, wieviel es auch noch wert gewesen sein mag. Was verlangst du dafür?«
    »Verlangen?« Die glänzenden schwarzen Augen sahen sie direkt an und maßen sie. »Ich will nichts ... das heißt ...«
    Die Alte runzelte die Stirn und winkte ungläubig ab. »Nun komm schon, meine eigene Heilerin hätte drei

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