Kornmond und Dattelwein
von ihren Tätigkeiten. Einigen Frauen schlugen Holz, andere schmiedeten Eisen, dazwischen einige, die ihre Babies säugten, und schließlich die Kriegerinnen, die ihre Köpfe so stolz reckten, als wären sie männliche Kriegshelden. Natürlich waren hier und da auch ein paar Männer zu sehen, deren Tätigkeiten sich so gut wie gar nicht von denen der Frauen unterschieden. Aber Inanna interessierte sich am meisten für ihre Geschlechtsgenossinnen. Selbst die jungen Mädchen waren hier ganz anders. Wenn sie liefen, liefen sie wie Jungen. Sie lärmten und schoben sich achtlos das Hemd in den Gürtel, und niemand rief ihnen nach, sie hätten sich gefälligst ruhig und sittsam zu geben.
»Da steht der Palast«, sagte Lyra plötzlich und blieb unvermittelt stehen. Über den Mauern schaukelten die Wipfel von Dattelpalmen sanft im Wind. Ein halbes Dutzend Soldaten stand Posten vor dem großen Portal.
»Warte hier einen Moment.« Lyra ließ Inanna an einer geschnitzten Säule stehen und begab sich zu den Posten. Nach einer Weile eiliger Konversation, formte ein Soldat die Hände am Mund zu einem Trichter und rief etwas durch das Tor. Augenblicklich erschienen vier Männer und trugen eine vornehme Sänfte auf den Schultern. War die etwa für die Alte am Olivenhain bestimmt? Dann mußte sie ja mindestens die Hohepriesterin sein.
»Warum haben die Posten vor dir salutiert?«
Lyra lächelte nur. »Vermutlich mögen sie mich«, erklärte sie verschmitzt.
Inanna zeigte auf den Palast. »Ist dort eure Königin zu finden?« Lyras Miene wurde etwas traurig. Sie wandte sich ab und sah den Sänftenträgern nach, die raschen Fußes über die belebte Straße eilten und sich ihren Weg durch die Trauben der Neugierigen bahnten. »Manchmal stellst du zu viele Fragen«, sagte Lyra, aber es klang nicht unfreundlich.
Im Hof von Lyras Haus plätscherte ein kleiner, künstlicher Wasserfall über gefärbte Fliesen in ein sonnenbestrahltes Steinbassin. Vor Inanna standen zwei junge Männer. Beide gut aussehend und dunkelhaarig, mit blanker Brust, gelockten Bärten und Kupferarmreifen am Handgelenk.
»Meine Brüder«, erklärte Lyra. »Das ist Ev, und das ist Talin.« Der größere der beiden lächelte. (Wer war er? Inanna hatte nur mit einem Ohr zugehört.) Lyra ließ sich am Rand des Brunnens nieder, nahm die lederne Brustplatte ab und band sich den Schienbeinschutz los. »Möchtest du ein Bad nehmen?«
Inanna sah auf ihre schmutzigen Beine und das verschlissene Gewand. Sie schämte sich. »Ja, sehr gern.« Sie fragte sich, wie die Stadtmenschen badeten. Im Fluß vielleicht? Die Unwissenheit ließ es ihr noch unbehaglicher werden. Lyra unterhielt sich kurz mit den beiden Männern. Dann lächelte sie, nahm ihren Helm und überquerte den Hof. Als sie einen Vorhang beiseite schob, der vor einem Ausgang hing, erhaschte Inanna einen Blick auf einen langen, im Halblicht liegenden Flur, an dessen Ende ein Käfig voller Vögel stand, die Federn in den Farben von Blumen trugen.
»Hier entlang, Muna.« Talin nahm sie an die Hand und führte sie um den Brunnen herum zu einem anderen Ausgang. Er zeigte auf eine kleine, weiße Steintreppe, die sich durch das Sonnenlicht aufs Dach zu wand.
Das Badezimmer war mit kleinen, blauen Fliesen in der Form von Fischen und Wasserpflanzen ausgelegt, und das Wasser sah angenehm kühl aus. Wie sonderbar, Wasser in einem Zimmer aufzubewahren, statt unter dem freien Himmel, wo sein natürlicher Platz war. Wie merkwürdig inmitten einer Lehmkonstruktion zu leben, statt in einem Zelt, wo man, um die Bäume oder die Sterne zu sehen, nicht mehr zu tun brauchte, als eine Klappe beiseite zu schieben. Als Inanna sich auf eine Steinbank am Rand der Wanne niederließ, fühlte sie großes Heimweh nach den Bergen.
»Bitte.« Sie sah nach unten und entdeckte Ev, der vor ihren Füßen kniete und ihre Sandalen löste. Ob er auch noch dabeisein wollte, wenn sie ins Bad stieg! Inanna riß den Fuß zurück und winkte errötend die Männer aus dem Zimmer. Aber die blieben dort und schienen sich zu amüsieren.
»So verlangt es der Brauch«, sagte Ev höflich und schüttete ein paar Tropfen eines süßlich riechenden Öls ins Badewasser. Talin trat neben Inanna und zog ihr mit einem raschen und geübten Griff das Gewand über den Kopf, bevor sie sich dagegen wehren konnte. Er nahm sie bei der Hand und führte sie zu der im Boden eingelassenen Wanne. Ich gebe auf, dachte Inanna, wenn sie unbedingt bleiben wollen, sollen sie eben.
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