Korona
diese Entscheidung in aller Eile und ohne Rücksprache mit uns getroffen wurde. Aber wir wollen uns nicht nachsagen lassen, unflexibel zu sein. Daher möchte ich euch bitten, Ray in der Anfangszeit ein bisschen unter die Arme zu greifen und ihm zu helfen, bis er weiß, was er zu tun hat. Da die Arbeitsplätze momentan alle belegt sind, werde ich Ray vorerst für einfache Arbeiten einsetzen. Putzen, kochen, aufräumen, Transportdienste. Ich hoffe, das ist okay für Sie?« Sie warf ihm einen vielsagenden Blick zu.
Er zuckte die Schultern. »Kein Problem.«
»Ist nicht so schlimm, wie es klingt«, sagte sie. »Hier sind alle stubenrein.«
Auf einigen Gesichtern erschien ein Lächeln.
»Ray wird unsere Arbeit beobachten, Fragen stellen und Informationen sammeln«, wandte sie sich wieder an die anderen. »Er soll erfahren, was wir hier tun, woran wir forschen und welchen Sinn diese Einrichtung hat. Und lasst euch von seinem Äußeren nicht irritieren. Er beißt nicht. Ich konnte mich auf der Fahrt hierher selbst davon überzeugen.«
Einzelne Lacher erklangen.
Ray verzog seinen Mund zu einem schiefen Grinsen. Klang, als würde sie von einem Hund sprechen.
»Wenn er mit den Abläufen vertraut ist, nehmen wir ihn mit auf Beobachtungstour«, fuhr Amy fort. »Dann kann er Zählungen durchführen und Markierungsarbeiten übernehmen. Ich denke, es wird interessant sein zu beobachten, wie Ray versucht, einem unserer Silberrücken einen Sender zu verpassen.«
Wieder wurde der Scherz mit einigen Lachern quittiert. Die Stimmung begann sich zu lockern.
»Wo soll er denn schlafen? Ich hoffe, du hast nicht vor, ihn in mein Zelt zu stecken.« Die Stimme gehörte einem dicklichen Mann, der für sein jugendliches Alter bereits über beträchtliche Geheimratsecken verfügte. Eine Brille mit starkem Rand beschattete zwei fröhlich zwinkernde Augen.
Amy bedachte Ray mit einem schiefen Lächeln. »Das ist Karl Maybach, unser Wetterexperte. Fünfzehn Semester Meteorologie und Astronomie plus ein Patent in Astrophysik. Ein echtes Genie, allerdings etwas umständlich. Stellen Sie ihm besser keine Fragen, wenn Sie sich nicht einen halbstündigen Monolog anhören wollen. Nein, Karl, du kannst ganz unbesorgt sein. Ray wird vorerst bei Richard im Blockhaus schlafen. Sicher haben wir irgendwo noch eine Matratze und ein paar Decken, und eine ruhige Nische werden wir auch noch finden. Ist es in Ihrem Sinne, wenn ich Whitman nachher noch verständige und ihm mitteile, dass Sie wohlbehalten angekommen sind?«
»Das wäre nett.«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Das wär’s dann von meiner Seite. Noch irgendwelche Fragen?«
Verhaltenes Gemurmel erklang. Eine junge Frau mit roten Haaren hob ihre Hand. Sie sah ein wenig abgerissen aus, mit ihrem Nasenpiercing, ihrem schlabberigen Pullover und der schwarzen Jeans. Ein Tattoo in Form einer Schlange kroch ihren Nacken empor. Ray musste grinsen. Ein echtes Riot-Girl.
»Hi, mein Name ist Mellie«, sagte sie. »Stimmt es, dass euer Flugzeug bei der Landung vom Runway abgekommen ist? Wir haben hier versucht, etwas übers Radio zu erfahren, aber die Verbindung war miserabel. Wir haben nur ungefähr jedes dritte Wort verstanden.«
»Stimmt«, meldete sich eine andere Stimme. »Es hieß, es hätte etliche Verletzte gegeben. Wie schlimm war es?«
»Hat man schon herausgefunden, warum die Maschine notlanden musste?«, rief jemand. »Erzähl doch mal.«
»Halt, halt, halt.« Richard trat mit erhobenen Händen dazwischen. »Sosehr mich das alles selbst interessiert, ich schlage vor, dass wir den beiden erst mal etwas zu essen anbieten. Sie laufen seit acht Stunden nur noch auf Reserve. Also besinnt euch bitte auf die Grundregeln der Höflichkeit. Löchern können wir sie hinterher immer noch. Ray, wie sieht’s aus? Lammeintopf mit Kochbanane und Süßkartoffeln?«
»Gern.« Ray nickte dankbar. Richard war offenbar ein Mann, der praktisch zu denken vermochte. Pures Gold in einer Gruppe verkopfter Akademiker.
»Dann kommen Sie.«
Zwei Stunden später lehnte Ray sich erschöpft zurück und warf einen kurzen Blick über die Lichtung. Es war eine traumhafte Nacht. Die Pflanzen waren von einer dünnen Schicht Feuchtigkeit überzogen, auf der das Mondlicht glitzerte. Die Geräusche waren zu dieser Stunde anders als bei seiner Ankunft. Irgendwie dunkler und geheimnisvoller. Hin und wieder hörte man einen Colobusaffen, dazwischen das vereinzelte Bellen von Pavianen. Eine Eule rief irgendwo
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