Korrupt (German Edition)
abgespreizt. Seine langsame Atmung erwärmte sein Gesicht.
Annie hatte geduscht, die Haare geföhnt, neue Kleider aus dem Schrank genommen und das Frühstück zubereitet, ohne dass er wach geworden war, obwohl sie absichtlich besonders viel Lärm gemacht hatte. Sie wusste, dass ein klärendes Gespräch nötig war, dazu fehlte ihr aber die Kraft. Sie hatte mit angesehen, wie er stetig mehr getrunken hatte, und ahnte, dass dies mit ihrer Schwangerschaft zusammenhing und dass er genauso große Angst hatte vor der Zukunft wie sie. Sie musste ihm begreiflich machen, dass sie ihn verstand, und ihn gleichzeitig dazu bringen, weniger zu trinken. Wegen des Kindes, wegen ihr, wegen ihm.
Sie betrachtete sich im Spiegel von der Seite, drehte sich hin und her und beschloss, sich noch einmal umzuziehen. Sie wollte das anziehen, was sie zuerst herausgesucht hatte. Mit einer gewissen Üppigkeit konnte sie leben, wollte aber nicht fett wirken. Jetzt noch eine Kleinigkeit essen und dann aufbrechen. Es war schon fast acht. Sie hatte die Zeitung gelesen, sowie sie der Zeitungsbote durch den Briefkastenschlitz geschoben hatte. Ihr Artikel war drin. Sie hätte ihn gerne Max gezeigt, legte die Zeitung aber in ihre Tasche. Sie war seltsam gelassen, obwohl sie wusste, was sie erwartete. Ich habe das Richtige getan, dachte sie. Für die Mädchen. Für Sissi.
«Liebling», flüsterte sie und fuhr Max mit der Hand durchs Haar. «Hörst du mich?» Er grunzte. «Liebling. In der Küche gibt’s Toast, wenn du möchtest. Und Kaffee.»
Er hörte ihre Stimme nur gedämpft, wie durch Watte. «Hm», antwortete er.
«Liebling», wiederholte sie, aber der Rest des Satzes konnte nicht mehr zu ihm vordringen. «Ich gehe jetzt.»
«Hm», sagte er noch einmal, drehte sich um, ohne das Kissen vom Gesicht zu nehmen und glitt in seinen Traum zurück. Er stand in einem Saal vor einem riesigen Publikum. Alle applaudierten ihm. Er war in Trance. Bevor alles den Bach runtergegangen war, vor seinem Umzug an die Westküste, hatte er sich wie Charlie Parker gefühlt. Er hatte gespielt, und alle im Saal hatten gewusst, dass es Jazz war. Sein Herz pochte so heftig, dass er den Puls in den Daumen spüren konnte. Der Swing war perfekt. Er sehnte sich nach nichts anderem als dem nächsten Akkord. Nicht nach seiner Frau, nicht nach dem Kind, das sie erwarteten, nicht einmal nach einem Gin Tonic, nur nach dem nächsten Akkord. Zwischendurch schämte er sich den Bruchteil einer Sekunde, aber das war vor dem nächsten Takt immer vorbei. Den nächsten Takt, mehr brauchte er jetzt nicht. Das war das Einzige, was er jetzt brauchte. Aus dem Augenwinkel sah er, dass C (was für Chef stand) ihn anschaute. Er wusste, dass er auf die Uhr klopfen würde, die er von seinem Vater geerbt hatte, wenn ihre Blicke sich trafen. Aber er sah nicht auf. Nur noch ein bisschen, dachte er. Ich weiß, wie spät es ist, aber nur noch ein bisschen. Dann gehe ich nach Hause und liebe meine Frau und mein Kind und tue alles, was von jemandem wie mir erwartet wird. Wenn alles vorbei sein und er in den kalten Herbstabend treten würde, dann würde er sich nach allem anderen sehnen und es lieben, da er wusste, dass es viel wichtiger war als er selbst und der nächste Takt. Aber jetzt nicht, bat er im Traum. Nur noch ein bisschen.
«Nur noch ein bisschen», flüsterte er in das leere Zimmer. «Nur noch ein bisschen.»
Die Wohnungstür schlug zu, und Annies Schritte hallten auf der Treppe. Es war halb neun, ein kalter Tag begann. Wie eine Vorahnung.
8
Carl von Konow saß an seinem Schreibtisch. Jan Wikholm auf dem Stuhl, auf dem Annie vor wenigen Tagen gesessen hatte. Er drehte sich um und sah Annie an. Er war blass, seine Augen waren gerötet. Vielleicht lag das an seinem Kater, vielleicht aber auch an dem Artikel, den er vor sich liegen hatte und den ihm von Konow gerade gegeben hatte.
«Verdammt, Annie», begann Wikholm, als sich ihre Blicke trafen, wurde aber von von Konow unterbrochen, der betont förmlich zu reden versuchte, um seine Erregung zu verbergen. Was misslang.
«Annie Lander, du bist laut Arbeitsschutzgesetz ab heute beurlaubt. Binnen dreißig Tagen teilen wir dir mit, welche Disziplinarmaßnahmen wir ergreifen. Wahrscheinlich brauche ich nicht zu erläutern, dass diese vom Umfang des Schadens abhängen, den du angerichtet hast. Ich halte es für nicht unwahrscheinlich, dass jemand eine Verleumdungsklage gegen dich anstrengt. Solange du suspendiert bist, erhältst du keinen Lohn.
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