Korrupt (German Edition)
jedenfalls, von wem er das hat», meinte Annie und begegnete streng seinem weichen Blick.
«Wenn er einen Schaden davonträgt, weil jemand zu viel gearbeitet hat, dann wissen wir auch, wessen Schuld das ist», erwiderte Max.
Annie hielt inne und sah ihn an. Aus dem Kopfhörer war ein Crescendo zu hören. Sie schlug ihm den mit Wein getränkten Lappen ins Gesicht. «Unsensibler Idiot!»
Sie rannte Richtung Toilette, und Max wusste, dass es keinen Sinn hatte, ihr zu folgen. Sie knallte die Tür so fest zu, dass ein Passant auf der Åsögatan beinahe die Polizei gerufen hätte, weil er meinte, auf dem Medborgarplatsen einen Schuss gehört zu haben.
Max griff zu seinem Glas und schenkte sich den letzten Rest aus der Flasche ein. Er dachte bei jedem Schluck: Du hast sie nicht verdient. Als er diese Worte aussprach, traten ihm die Tränen in die Augen. Er fuhr sich mit der Zunge über die Vorderseite der Zähne, und ein durchdringender Kopfschmerz breitete sich zwischen den Augen und den Schläfen aus. «Max Lander, du bist ein Versager, ein unglaublicher Versager.»
Er ging mit dem Weinglas in die Küche, stellte es in die Spüle, ging mit einem anderen Lappen ins Wohnzimmer und begann, den Boden zu putzen. Der Wein war bis zum Teppichrand gelaufen. Er holte das Salzfass und schüttete die Hälfte des Inhalts auf den Fleck. Wie Sand aus einem Stundenglas fielen die Salzkörner auf den Teppich, und er hatte plötzlich das Gefühl, nicht mehr viel Zeit zu haben. Es gab keine Abkürzung. Ein einfaches «Entschuldige» würde nicht genügen. Das hatte er ihr angesehen. Jetzt war Krise.
Zu Anfang ihrer Beziehung hatten sie noch miteinander reden können, aber dann hatten sie beide immer öfter die Zähne zusammengebissen und geleugnet, dass etwas nicht in Ordnung sei. Sie hatten die Schwächen des anderen toleriert. Erst ehrlich, dann nur noch zum Schein. Kalter Krieg. Im Gegensatz zu dem wirklichen Kalten Krieg gab es einen fettigen Fingerabdruck auf dem roten Knopf. Sie arbeitete immer mehr. Er trank demonstrativ immer mehr und saß mit Kopfhörern im Wohnzimmer. Beide lagen nachts wach und dachten an das Kind und daran, wie sehr sie einander liebten, und grübelten über die Frage nach, auf die es keine Antwort gab: Wie bringe ich das bloß wieder in Ordnung? Beide fühlten sich machtlos. Nur Gott konnte ihnen helfen. Wobei ihnen wohler gewesen wäre, wenn zumindest einer von ihnen an ihn geglaubt hätte.
Er setzte sich auf den Fußboden vor die Toilette und lehnte sich an die Wand neben der Tür. Er hörte Annie auf der anderen Seite der Tür atmen und wusste, dass sie ihn hörte.
«Mir ist dieses dauernde Streiten zu anstrengend», sagte sie. «Warum tun wir das?»
«Ich weiß nicht.»
«Heute will ich mich nicht mit dieser Antwort begnügen. Streng dich an!»
Er hätte sich in jenen Winkel seiner Seele begeben müssen, der die Wahrheit über ihn beherbergte, und das war ein Ort, an dem er sich nur ungern aufhielt und den er nach Möglichkeit mied. Er mied ihn, so gut es ging. Genau so, wie er immer die Nachrichten ausschaltete, wenn sich ihm die Bilder von der Welt allzu eindringlich und schrecklich aufdrängten. Sein Leben lief darauf hinaus, nicht alles zu wissen, weder über sich noch über die Welt. Wieder stiegen ihm die Tränen in die Augen, und er presste die Lippen zusammen. Ich bin so ein kleiner Mensch, dachte er. Ich hätte im Arsch einer Ameise Platz, so klein bin ich.
«Ich kann nichts dafür», begann er.
«Du musst lauter reden, Max.»
«Kannst du nicht einfach rauskommen?»
«Nein.»
Er nickte. Er wollte seine Gefühle beschreiben, aber er brachte kein Wort heraus. Ihm kam es so vor, als hätte er seine Fähigkeit, das Leben zu meistern, vor langer Zeit gegen seine Musikalität eingetauscht. Eine bessere Gelegenheit, diesen Tausch rückgängig zu machen, würde sich nie wieder bieten. Ich kann nichts dafür, wollte er sagen. Ich habe Angst, dass ich dich nicht verdient habe. Was bin ich schon? Ein Junge in einem Männerkörper. Ich widme mein Leben Unnützem. Mir fehlen deine Kenntnisse. Ich bin egozentrisch. Ich schalte um, wenn im Fernsehen über ernste Themen berichtet wird. Ich habe mich dir immer unterlegen gefühlt, weil ich dir unterlegen bin. Er wollte ihr sagen, dass er das Gefühl hatte, zu anhänglich zu sein. Ich habe das Gefühl, mich einer Welt aufzudrängen, in der ich nichts zu suchen habe. Er wollte ihr erklären, dass er das Gefühl hatte, dass alle anderen mindestens
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