Korrupt (German Edition)
ich auch gemacht. Ich musste sie allerdings dazu überreden. Anschließend grüßten wir uns und wechselten auch ab und zu ein paar Worte. Gelegentlich gingen wir einen Kaffee trinken. Ich glaube, sie fühlte sich etwas einsam und freute sich, wenn sie mit jemandem reden konnte. Nach Ihrer Geburt trafen wir uns seltener, aber einige Male auch zu dritt. Sie waren damals vermutlich noch zu klein, um sich daran erinnern zu können.»
«Wahrscheinlich», antwortete sie und versuchte, das, was sie gerade gehört hatte, zu begreifen. «Ich erinnere mich kaum noch an meine Mutter. Wie war sie?»
«Sie war ein wunderbarer Mensch», sprudelte es aus Sture Hult heraus. «Karin hatte eine unglaubliche Energie, die man auch spürte, wenn man sie kaum kannte. Ich hatte den Eindruck, dass sie einen ausgesprochen starken Willen besaß, der nicht immer gut für sie war, wenn Sie verstehen, was ich meine.»
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, dachte sie und lächelte.
«Soweit ich weiß, kündigte sie ihre Arbeit in der Fabrik in Västerås, weil sie fand, dass man die Gastarbeiterinnen aus Italien nicht korrekt behandelte. Sie packte kurzerhand ihre Habseligkeiten, verließ den Ort und kam nach Flen. Sie war ganz einfach ein Mensch, der nicht klein beigab.»
«War sie eine schöne Frau?»
«Aber ja. Ich habe immer noch das Foto, das ich für meinen Artikel von ihr gemacht habe. Ich kann Ihnen gerne einen Abzug machen.»
«Das würde mich sehr freuen. Sehen wir uns ähnlich?»
«Sehr sogar. Als ich das Foto in der Zeitung sah, dachte ich erst, sie sei es.»
Annie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen traten. Sie war erleichtert, dass sie ihre Mutter endlich kennenlernen konnte. Darauf hatte Annie ihr Leben lang gewartet. «Das freut mich sehr», sagte sie. «Danke.» Sie verstummte. «Ich habe immer geglaubt, meine Mutter hätte sich das Leben genommen, aber nach dem Tod meiner Pflegeeltern erfuhr ich plötzlich, dass sie ermordet worden ist. Was ist damals eigentlich geschehen?»
«Das ist eine lange, komplizierte Geschichte, die, wenn Sie mich fragen, noch nicht zu Ende ist.» Sture Hult räusperte sich. «Die Nachricht von Karins Tod war ein Schock. Es war unmöglich, in Erfahrung zu bringen, was genau geschehen war. Die Ermittlung wies große Nachlässigkeiten auf. Es verging viel Zeit, bis feststand, dass sie umgebracht worden war. Anfänglich wurde behauptet, sie habe Selbstmord begangen, obwohl das überhaupt nicht sein konnte.»
«Haben Sie ihre Leiche gesehen?»
«Ich habe das Paar interviewt, das sie gefunden hat. Sie haben von Verletzungen im Kopfbereich und blutigen Kleidern erzählt. Jeder, der die Volksschule abgeschlossen hat, weiß, dass Tote nicht bluten und dass sie sich die Verletzungen vor ihrem Tod zugezogen haben muss. Trotzdem hieß es lange, sie seien entstanden, als die Leiche an die Felsen am Seeufer gespült worden ist. Ich habe versucht, das Material zu präsentieren, das ich zusammengestellt hatte, aber es war offensichtlich, dass niemand wissen wollte, was wirklich geschehen war. Man war zu einem stillschweigenden Einvernehmen gelangt, und die Todesursache lautete zwar nicht mehr Selbstmord, sondern Tod durch Ersticken, aller Wahrscheinlichkeit nach unfreiwillig. Es wurden zu wenige Vernehmungen durchgeführt und keine weiteren Zeugen vorgeladen, als dass von einer ernsthaften Tätersuche die Rede sein konnte. Es hieß, der Fall sei zu undurchsichtig, um etwas beweisen zu können. Ich würde eher sagen, dass gewisse Leute ihre Arbeit nicht vernünftig gemacht haben, und das aus zweifelhaften Gründen.»
«Und Sie?»
«Ich schäme mich, einzugestehen, dass ich mich danach wieder gänzlich auf Porträts über neue Einwohner von Flen beschränkt habe. Ich habe wohl resigniert. Aber abends bin ich in den Keller runter und habe mich mit dem Fall befasst, bis ich nicht mehr weitergekommen bin. Es wollte mir ohnehin niemand zuhören. Schließlich habe ich den Fall, wie so vieles andere, ad acta gelegt. Bis ich heute in der Zeitung auf Ihren Artikel stieß. Ich fühlte mich plötzlich um dreißig Jahre zurückversetzt. Als ich Ihr Gesicht sah, kehrte die Erinnerung an alles wieder. Ich begann, nach dem Karton mit meinen Aufzeichnungen zu suchen, um mich zu vergewissern, dass ich das alles nicht nur geträumt hatte. Aber nein, da stand er. Und alles lag unberührt darin.»
«Waren Sie bei der Beerdigung meiner Mutter?»
«Ja. Sonst wäre nur der Pfarrer dort gewesen. Karin hatte nicht viele
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