Korsar und Kavalier
Captain.
Nein, sagte sie sich. Nicht zum Captain. Zum Earl. Sie seufzte, worauf sich in der kalten Morgenluft ein Dampfwölkchen bildete. Es würde wohl eine Weile dauern, bis sie sich an den Titel gewöhnt hatte.
Sie war spät dran und wusste es. Trotzdem wollte sie nicht den Eindruck erwecken, als hätte sie es eilig. Seit letzter Nacht verfolgte sie ein Gefühl drückender Vorahnung. Sie konnte den hitzigen Kuss des Captains nicht vergessen, ebenso wenig ihre leidenschaftliche Reaktion. Das war der Grund, warum sie trotz des kalten Windes so schleppend ging: Sie wunderte sich, wie sie auf diese schlichte Umarmung reagiert hatte.
Vielleicht lag es nur daran, dass sie so lang bei keinem Mann mehr gelegen hatte. Mit Phillip hatte sie die körperliche Seite der Liebe sehr genossen. Er war ein zärtlicher und sanfter Liebhaber gewesen, eine Erinnerung, die ihr lieb und teuer war. Er hatte sie ermutigt im Liebesspiel und ihre Reaktionen genossen.
Phillip nahezukommen war einfach gewesen und entspannt; es war beinah unwillkürlich geschehen. Das Zusammensein mit Phillip war vom ersten Moment bis zu seinem Tod ... einfach gewesen. Beim Captain war überhaupt nichts einfach. Jeder Moment vibrierte vor Spannung.
Doch dieses Gefühl ist nichts Ernstes, sagte Prudence sich energisch. Sie war doch kein grünes Ding, das erotische Spannung mit wahrer Liebe verwechselte!
Sie hatte die Liebe bereits erfahren, hatte sich in der kurzen Zeit, die ihnen vergönnt war, an Phillips Anbetung gewärmt. Was sie für den Captain empfand, war nichts weiter als körperliche Anziehung, die von allein wieder vergehen würde.
Sie straffte die Schultern. Genug davon. Es wurde Zeit, nach vom zu sehen. Heute wollte sie möglichst viel über die Fähigkeiten des Earls herausfinden und vielleicht auch ein wenig über seine Vergangenheit. Reeves’Worte gestern hatten ihre Neugier geweckt.
Ein eisiger Windstoß fuhr ihr in die Kleider. Sie senkte den Kopf und eilte weiter. Der Wind war wild und ungebärdig und wurde mit jedem Schritt stärker. Als sie endlich am Cottage ankam, spürte sie ihre Füße nicht mehr. Verflixt, war heute selbst die Natur gegen sie? Im Umgang mit dem Captain brauchte sie all ihre Geistesgegenwart.
Er war eine merkwürdige Mischung aus rauer Gereiztheit und leisem Humor. Unterschwellig spürte sie eine verführerische Sinnlichkeit, die all ihre Sinne zum Klingen brachte. Dennoch - so wenig sie ihn auch kannte, sie fürchtete ihn nicht; trotz seines barschen Geredes brachte der Mann es nicht übers Herz, seine Schafe einzupferchen oder einen verwundeten Seemann abzuweisen. Sie hatte eher den Verdacht, dass die markigen Sprüche des Captains nur verbergen sollten, dass er sehr viel weichherziger war, als er wollte.
Sie sollte ihn in Gedanken wirklich den „Earl“ nennen oder „Rochester“, so schwer ihr das auch fiel. Captain war er gewesen, als sie ihn kennengelernt hatte, und „Captain“ hatte sie ihn auch in Gedanken genannt.
Gerade als Prudence das Haus erreichte, wurde sie von einem Windstoß erfasst, der ihr kalt bis ins wollene Unterhemd fuhr. „Himmel! Vor lauter Träumereien verwandele ich mich hier noch in einen Eisklotz! “ Ohne einem weiteren Gedanken nachzuhängen, klopfte sie energisch an die Tür.
Wieder erfasste sie der kalte Wind, der über die Klippe heranpeitschte, durch den Garten pfiff und gegen das Haus und ihre Röcke wirbelte. Prudence zitterte und klopfte noch einmal an. Wo war Stevens? Selbst wenn er ausgegangen sein sollte, war doch sicher jemand anders zu Hause ...
Die Tür schwang auf. Doch vor ihr stand nicht Stevens. Stattdessen ragte eine riesige Gestalt im Türrahmen auf, und merkwürdig hellgrüne Augen richteten sich auf sie. „Sie“, sagte der Captain, und seine Stimme konnte am ehesten mit einem Knurren verglichen werden.
„Ja, ich“, antwortete sie. Ihre Lippen waren vor Kälte so taub, dass sie kaum sprechen konnte. „Hat Reeves Ihnen nicht gesagt, dass ich kommen würde?“
Der Captain - nein, der Earl - stützte sich auf seinen Stock. „Reeves sagte, Sie kämen um zwölf. Jetzt hingegen“, der Earl nahm eine Uhr aus der Tasche und ließ sie mit dem Daumen aufspringen, „ist es zwanzig nach.“
„Ich hatte heute Morgen ein paar dringende Sachen zu erledigen.“ Du liebe Güte, war ihr kalt. Ihre Lippen waren wie erstarrt, und ihre Zähne begannen leise zu klappern. „Wo ist Reeves?“
„In der Scheune. Er hat beschlossen, Stevens das Butlern
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