Kostas Charitos 06 - Die Kinderfrau
die Zeitung zu setzen, selbst wenn es, wie Sie meinen, für die Istanbuler Griechen ein Risiko darstellt.«
Murat wendet sich mir zu und blickt mich an. »Diese Frau ist ein Phantom. Und Phantome kann man auf Fotografien nicht festhalten.«
Er biegt jetzt in einen breiten, ansteigenden Boulevard ein. Auf beiden Straßenseiten ragen Wohnblöcke in die Höhe, teils Neubauten und teils in die Jahre gekommene Gebäude. Der Verkehr ist rege, doch der Boulevard ist >autofahrerfreundlich<, wie es neuerdings heißt, und ich brauche nicht ungeduldig zu werden.
»Als mein Vater jung war, war hier nur Ackerland«, erläutert Murat. »Ich habe die Gegend nie anders gesehen, als sie heute ist, doch mein Vater kennt sie noch von damals her. Immer wenn er nach Istanbul kommt, bittet er mich, ihn herzufahren. Dann parke ich am Straßenrand, und er steigt aus, blickt sich um und murmelt vor sich hin: >Bei Allah, all das waren Acker. Wie sich die Gegend verändert hat!< Ich habe ihn vermutlich schon zehnmal hierhergebracht, aber er hat es immer noch nicht verdaut.«
Entlang der Strecke werden die Wohnblöcke immer höher und breiter. Am Scheitelpunkt der Anhöhe biegt der Streifenwagen links in einen weiteren großen Boulevard ab.
»Das ist die Ringstraße«, erklärt Murat. »Wenn man die weiterfährt, kommt man wieder nach Sisli, in die Istanbuler Altstadt.«
Doch wir begeben uns nicht in den alten Stadtteil, sondern biegen nach rechts in eine schmalere Straße ein. Murat fährt langsam und liest die Nummernschilder, bis er das richtige Gebäude gefunden hat und davor einparkt. Nachdem er den Namen »Tayfur« gefunden hat, drückt er auf den Klingelknopf. Auf die Frage, die ihm durch die Sprechanlage gestellt wird, entgegnet er einsilbig »police«, worauf die Tür sogleich aufspringt.
»Fünfte Etage«, meint Murat.
Die Tür wird von einer Dame geöffnet, deren Alter in der Grauzone zwischen fünfzig und sechzig liegt. Das Damenhafte ihrer Erscheinung ergibt sich aus dem Gesamteindruck, der sich aus einfacher, aber gepflegter Kleidung, einem ungeschminkten Gesicht, unlackierten Fingernägeln und einem Blick zusammensetzt, der Respekt gebietet und jedes Bullengepolter unangemessen erscheinen lässt.
Murat passt sich sogleich den Erfordernissen des Augenblicks an und erläutert ihr manierlich den Grund unseres Besuchs. Anfänglich scheint ihr der Name Maria Chambou nichts zu sagen, doch plötzlich erinnert sie sich, und mit einem »Ach so, Maria!« bittet sie uns einzutreten. Murat und ich wechseln einen Blick, und er nickt befriedigt, da Maria - wie es scheint - zwar hier war, aber kein Unheil angerichtet hat.
Sie führt uns in ein Wohnzimmer, das in einen modernen und einen altmodischen Part unterteilt ist. Der moderne Part besteht aus einer Sitzgruppe mit Ledersofa und zwei Ledersesseln, während der altmodische Teil eine Sitzecke mit Sofa und Sesseln beherbergt, die aus dunklem Holz gedrechselt sind.
Die Dame platziert uns im modernen Bereich des Wohnzimmers. Murat und ich nehmen in den Sesseln, sie selbst auf dem Sofa Platz. Murat beginnt mit den Fragen auf Türkisch, und die Dame antwortet in derselben Sprache, während ich mich darauf einstelle, ein weiteres Mal den stummen Komparsen zu geben, den Murat nur ab und zu durch eine Erläuterung ins Rampenlicht rückt. Glücklicherweise jedoch legt die Dame hohe Maßstäbe an eine Unterhaltung, denn sie fühlt sich unbehaglich, weil ich dasitze und so tue, als ließe ich meinen Blick unbeteiligt durch die Gegend schweifen.
»I'm Selma Tayfur and I'm a professor of English literature at the University of Istanbul«, stellt sie sich mir in so tadellosem Englisch vor, dass es mir vor Schreck fast die Sprache verschlägt. Und als Nächstes konfrontiert sie mich mit der irritierenden Frage: »Und, wie läuft's auf Samos?« Sie merkt, dass ich außerstande bin, ihr zu antworten, und fährt fort: »Im letzten September habe ich an einem Kongress auf Samos teilgenommen. Was für eine wunderschöne Insel! Ich war hingerissen, und mein Mann und ich haben uns fest vorgenommen, unseren Urlaub dieses Jahr dort zu verbringen.«
Danach fragt sie Murat etwas auf Türkisch, worauf er antwortet, und Selma wendet sich wieder mir zu. »Herr Saglam sagt, dies sei ein inoffizieller Besuch. Dann halte ich es für besser, wenn wir englisch sprechen, damit Sie auch folgen können.« Sie hält inne, um ihre Gedanken zu ordnen, und hebt an:
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