Kostas Charitos 06 - Die Kinderfrau
»An einem Nachmittag vor etwa zehn Tagen, wenn ich mich recht erinnere, läutete es an der Tür. Draußen stand eine sehr alte und sehr erschöpfte Frau. Sie fragte mich, ob Madame Emine hier wohne. Emine ist der Name meiner Mutter. Ich bejahte, und sie fragte mich, ob sie sie besuchen könne. >Sagen Sie Madame Emine, Maria von Zoe und Minas sei hier<, fügte sie hinzu. Die Namen sagten mir zwar nichts, aber ich habe meiner Mutter Bescheid gegeben. Und ihr ist dann eingefallen, dass die junge Frau, die bei ihren Nachbarn Dienstmädchen war, Maria hieß, damals, als unsere Familie noch in Cihangir wohnte.« Sie hält abrupt inne und scheint zu zögern. »Das ist eine lange Geschichte«, meint sie dann. »Ich hole besser meine Mutter, damit sie sie Ihnen selbst erzählt. Ich kenne sie nicht in allen Einzelheiten.«
»Nur keine Umstände, wir möchten Ihrer Mutter nicht zur Last fallen«, interveniert Murat, der offenbar allen Regeln des Anstands folgt, da es sich bei Selma Tayfurs Mutter nur um eine sehr betagte Person handeln kann.
Selma lacht auf. »Wissen Sie, Herr Saglam, meine Mutter ist in einem Alter, wo sie nur mehr in alten Geschichten schwelgt. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit erzählt sie längst Vergangenes, das keiner von uns miterlebt hat oder woran sich keiner mehr erinnert. Alte Geschichten auszugraben bereitet ihr also keine Anstrengung, sondern Freude.«
Mit diesen Worten steht sie auf und geht hinaus, um ihre Mutter zu holen.
»Bislang läuft alles prima«, sagt Murat befriedigt.
»Ja, und ich gehe davon aus, dass wir eine erfreuliche Geschichte hören werden.«
»Wieso?«, fragt er mich überrascht.
»Weil es offenbar keinen Mord gibt. Und immer wenn es bei einem Besuch Marias nicht zum Mord kommt, steckt eine schöne Geschichte dahinter.«
Das Gespräch wird unterbrochen, da eine etwa achtzigjährige Dame in Begleitung von Selma Tayfur in der Wohnzimmertür erscheint. Sie hält einen Stock in der Hand und hat ihr weißes Haar zu einem Knoten hochgesteckt. Das Gehen fällt ihr zwar etwas schwer, doch sie hält sich aufrecht. Sie wirkt wie aus dem Ei gepellt, als sei sie gerade von einem Stadtspaziergang zurückgekehrt.
»Meine Mutter, Emine Kaplan«, stellt ihre Tochter sie vor.
Emine Kaplan nimmt auf dem Sofa Platz und lehnt den Stock neben sich. Kurz darauf erscheint ein Dienstmädchen mit einem Tablett, auf dem eine Teekanne und vier Tassen stehen. Ich fasse mich in Geduld, bis die Teezeremonie beendet ist und Emine das Wort ergreift. Von da an verläuft das Gespräch auf zwei Ebenen: auf Türkisch im Original, und auf Englisch in Selmas Übertragung.
»Als Ihnen Selma Hamm den Namen Maria nannte, haben Sie sich da sofort erinnert, wer das sein könnte?«, fragt Murat Emine.
»Erst als ich die Namen von Zoe und Minas hörte. Sie waren unsere Nachbarn, als wir noch in Cihangir wohnten. Maria war ihr Dienstmädchen gewesen. Sie war jung damals, vielleicht zehn Jahre älter als ich. Alle mochten sie gern, nicht nur ihre Herrschaften, auch meine Mutter. In jungen Jahren schon konnte sie herrliche Pittas zubereiten. Meine Mutter, die auch eigenhändig Blätterteig auszog, hat sie immer wieder geneckt. >Maria, heute gelingt mir die Pitta bestimmt besser als dir<, sagte sie zu ihr. Und Maria lachte. >Ihre ist immer leckerer, Melek Hanim<, antwortete sie, aber aus reiner Höflichkeit. Denn Marias Pitta war unübertrefflich.«
»Wissen Sie, warum sie ihre Stellung aufgegeben hat?«
»Weil die Familie durch die Vermögensabgabe ruiniert war. Ich kann mich an den Namen nicht mehr erinnern, er fing mit Da... an, wenn ich mich nicht täusche. Wir kannten sie als Monsieur Minas und Madame Zoe. So war das damals üblich. Die Türken redeten einander mit >Hanim< und >Bey< oder >Efendi< an, die Mitglieder der Minderheiten wurden mit >Madame< und >Monsieur< angesprochen. Monsieur Minas wurde mit einer so exorbitant hohen Vermögenssteuer belegt, dass er sie unmöglich zahlen konnte. Das Finanzamt pfändete seine Wohnung, und Zoe und Minas mussten warten, bis alles unter den Hammer kam.« Sie denkt kurz nach und meint dann: »Das muss Ende 42 oder Anfang 43 gewesen sein, aber eher '43, weil damals die Versteigerungen losgingen, wie ich aus den Erzählungen meiner Mutter weiß.«
Sie verstummt, lehnt sich auf dem Sofa zurück und drückt mit der Handfläche gegen ihre Stirn, als berichte sie von einem Übel, das erst gestern vorgefallen
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