Kostas Charitos 06 - Die Kinderfrau
»Sie hat mir noch etwas mitgebracht. >Das sollst du für mich aufbewahren«, sagte sie. >Das habe ich all die Jahre bei mir getragen, doch jetzt möchte ich, dass du es behältst - als Andenken.««
»Und was war es?«, fragt Murat.
Emine wendet sich an ihre Tochter. »Es liegt auf dem Nachttischchen neben meinem Bett.«
Selma tritt aus dem Zimmer, und als sie zurückkehrt, sind Murat und Emine gerade in eine türkische Unterhaltung vertieft. Sie hält eine Fotografie in Händen. Anstandshalber überreicht sie sie erst ihrer Mutter, die sie Murat weitergibt. Ich stehe auf und trete neben ihn. Die Aufnahme zeigt ein altes Schiff mit einem hohen Schornstein. Es liegt vor Anker, während am Heck etliche Boote warten. Die See liegt ruhig da, und an der Küste im Hintergrund sind die Häuser der Uferpromenade zu erkennen. Hinter dem Schiff ragt ein mit Kiefern bewachsener Hügel auf. Nur schwer kann ich den Namen des Schiffes entziffern: Neveser. Damit muss Marias Familie aus dem Pontusgebiet nach Istanbul gekommen sein, sage ich mir. All die Jahre hatte sie die Fotografie bei sich, und nun hat sie sie Emine übergeben, weil sie ihr Ende nahen fühlt. Um welchen Hafen am Schwarzen Meer handelt es sich wohl?
»Können wir die Aufnahme behalten, um eine Kopie zu machen?«, frage ich Murat. »Wir bringen sie ihr morgen zurück.«
»Selbstverständlich«, entgegnet Emine ohne Zögern.
Doch ihre Tochter ist etwas misstrauischer. »Entschuldigen Sie die Frage, aber was ist mit dieser Maria? Warum wird sie gesucht?«
»Sie wird vermisst, und wir versuchen sie zu finden. Sie ist alt und zudem krank, soweit wir wissen.«
Selma nickt. »Das stimmt, man sieht auf den ersten Blick, dass sie sehr erschöpft ist.«
Da wir keine weiteren Fragen haben, erheben wir uns.
Wir verabschieden uns von Emine Kaplan, und ihre Tochter begleitet uns hinaus.
»Darf ich Sie noch etwas fragen?«, sage ich zu Selma, als wir an der Wohnungstür anlangen. »Wie hat Maria Sie nach so vielen Jahren ausfindig gemacht?«
»Sie hat bei den Mietern unserer alten Wohnung nachgefragt. Wir sind wegen meiner Mutter aus Cihangir fortgezogen. Sie hat Herzbeschwerden, und hier ist die Luft vergleichsweise sauber. Mama wollte aber die Wohnung in Cihangir nicht aufgeben. >Die Wohnung meiner Eltern, in der ich geboren bin, verkaufe ich nicht<, meint sie, deshalb haben wir sie vermietet, mit dem Nebeneffekt, dass sie eigene Einkünfte hat und sich unabhängig fühlt.«
»It's unbelievable«, sagt Murat, als wir unten beim Eingang ankommen. »Unglaublich, aber sie geht genauso vor wie wir. Auch wir haben bei den Mietern nachgefragt, wo Familie Tayfur wohnt.«
»Welche Schlüsse ziehen Sie aus dem Foto mit dem Schiff?«
»Höchstwahrscheinlich zeigt es den Dampfer, mit dem sie aus dem Pontusgebiet nach Istanbul gekommen ist. Es ist ihr einziges Erbstück, und das hat sie nun Emine überlassen.«
»Sagt Ihnen der Hafen darauf etwas?«
»Nein. Die Aufnahme ist sehr alt, und ich kenne mich in der Türkei nicht so gut aus. Aber das sollte kein Problem sein, das kriegen wir heraus.«
Wir steigen in den Streifenwagen, um zurückzufahren. Bevor Murat Gas gibt, wendet er sich mir zu und blickt mich an. »Fahren Sie ruhig zur Hochzeit Ihrer Tochter nach Athen«, meint er. »Hier können Sie nichts weiter tun. Es ist fraglich, ob wir Maria Chambou noch lebend aufgreifen, aber selbst wenn, so bezweifle ich, dass sie ihren Prozess noch erlebt.«
* 27
»Papa, ich will ja nicht drängeln, aber wann hattet ihr denn vor, nach Athen zurückzukehren? Es sind nur noch zehn Tage bis zur Hochzeit. Ist es denn so toll dort, dass ihr euch gar nicht losreißen könnt?«
»Es geht nicht darum, wie toll Istanbul ist, mein Schatz. Mit dieser Frau habe ich mich auf etwas eingelassen... Weißt du, was mein türkischer Kollege sagt? Wir jagen ein Phantom.«
»Ich verstehe, aber sollten wir dann die Hochzeit nicht verschieben?«
»Auf gar keinen Fall! Zum Wochenende sind wir in Athen. Dann haben wir noch eine ganze Woche Zeit.«
»Einverstanden, und mit dem Kauf des Brautkleids warte ich auf Mama. Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass es mir auf Anhieb wie angegossen passt. Wir werden es ändern lassen müssen, und ich befürchte, dass dafür die Zeit nicht mehr reicht.«
»Warum kaufst du es nicht alleine?«
»Hast du vergessen, dass ich Mama versprochen habe, es mit
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