Kostbar wie ein Tag mit dir - Roman
Tränen nicht aufhalten können und nicht mal ein Taschentuch in der Handtasche finden, um sie abzuwischen und sich die Nase zu putzen, würdigt Sie niemand auch nur eines Blickes.
Ich war einfach irgendeine Exzentrikerin, die auf einem Bahnsteig stand.
Als Charlie geboren wurde, hatte er etwas von einem hässlichen Entlein. Natürlich haben alle gesagt, er sei wunderschön - die Freunde, die Verwandten und sogar fremde Frauen im Supermarkt. Aber ich wusste, dass das nicht stimmte. Und selbst später noch kramten Marc und ich alte Fotos von ihm hervor und schüttelten lachend den Kopf. Ja, Charlie hatte etwas Besonderes an sich mit den klaren blauen Augen und dem breiten zahnlosen Lächeln. Aber er war so ein dürrer, langer kleiner Kerl gewesen, und seine roten Zehen hatten ausgesehen wie die Fangarme eines Oktopus - gar nicht zu vergleichen mit diesen Pummelchen in der Werbung, die einfach zum Anbeißen waren. Außerdem wurde er mit einer Beule auf dem flaumigen Köpfchen geboren, die erst viele, viele Monate später verschwand. Komisch, ich hatte immer gedacht, Mütter würden solche Dinge einfach übersehen.
Bei mir war das anders.
Erst als Charlie ungefähr fünfzehn Monate alt war, passierte es, und zwar beinahe über Nacht. Wir haben oder, genauer gesagt, hatten ein Video aus der Zeit von ihm:
Eine Badeszene: Seine dicken Händchen mit den Grübchen patschen ins Wasser, spritzen Blasen auf sein rundes Bäuchlein. Er gibt diese witzigen Geräusche eines kleinen Jungen von sich, verleiht seinem Lego-Spielzeug Stimmen, während er es auf dem Wannenrand aufreiht. Ich streiche ihm das nasse Haar aus dem Gesicht. Seine rosigen Wangen glänzen, die nassen Wimpern kleben zusammen, sodass es aussieht, als wären seine blauen Augen mit schwarzem Kajal umrandet.
Er war so wunderschön.
10
D as war der Tropfen, der das Fass in Lherm für mich zum Überlaufen brachte. Charlie.
Ich war wie immer gekommen, um ihn von der Schule abzuholen, nur dass er diesmal ein Stück vom Schultor entfernt allein an der Ecke stand, um auf mich zu warten. Das überraschte mich. Normalerweise alberte er noch mit seinen Freunden am Tor herum, sodass ich immer ein paar Minuten warten musste, bis sie sich verabschiedet hatten, prahlerisch, wie Jungen das tun. Aber an diesem Tag hatte ich kaum am Straßenrand angehalten, da packte er auch schon den Türgriff und sprang ins Auto.
»Hi, Charlie.« Ich lächelte ihm zu. »Warum so eilig?«
Er zuckte die Achseln, sah mich aber nicht an. »Können wir bitte einfach nach Hause fahren?«
»Klar.« Während ich an der Schule vorbeifuhr, winkte ich seinen Freunden zu. Sie reagierten nicht. Ich wartete, bis wir um die Ecke gebogen waren, bevor ich es noch mal probierte. »Was ist denn los, Charlie?«
»Gar nix.« Sein Gemurmel war kaum zu hören, denn er schaute angestrengt in die andere Richtung, aus dem Seitenfenster.
Während wir am Fluss entlangfuhren, beschloss ich, die Sache für die nächsten Kilometer auf sich beruhen zu lassen. Die Sonne war nach zwei Wochen Dauerregen gerade erst wieder herausgekommen, und daher war das Wasser schlammig braun. Dann war es Zeit für den nächsten Versuch.
»Hochwasser.«
Nichts, nicht mal ein Brummen.
Wir Bogen in die holprige Straße ab, die nach Lherm führt. »Hör mal, Charlie, du musst mir erzählen, was dich quält, verstehst du. Sonst -«
Da rastete er aus. »Hör auf, Mummy! Du kannst mir nicht helfen!«
Er brüllte so laut, dass ich zusammenfuhr und zu plötzlich auf die Bremse trat. Obwohl niemand auf der Straße war, schaltete ich den Blinker ein, ganz automatisch, schließlich war ich in der Großstadt aufgewachsen. Ich hielt am Straßenrand.
»Gut.« Ich wandte mich Charlie zu. »Wie wär's, wenn du mir trotzdem erzählen würdest, was los ist? Damit ich wenigstens weiß, wobei ich dir nicht helfen kann.«
Mit gekrauster Stirn warf er mir einen Blick zu. Da erst fiel es mir auf: Sein Nasenrücken war rot und geschwollen, und unter den Augen hatte er dunkle Ringe.
Wenn es einen Menschen gibt, der noch lauter brüllen kann als Charlie, dann bin ich das. »Shit! Was haben sie bloß mit dir gemacht?«
Ich griff nach seinem Kinn, um sein Gesicht zu mir zu drehen, aber er zog den Kopf mit einem Ruck Weg. »Das ist doch nichts. Sei doch nicht gleich hystérique.«
»Hysterisch!«, fauchte ich zurück. Mein Gott, wie ich dieses neue Wort hasste, das er von seinen Klassenkameraden aufgeschnappt hatte. Seit unserer Ankunft in Lherm
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