Kostbar wie ein Tag mit dir - Roman
nicht. Drei Monate später kam ich zur Welt.
Allerdings verlor sie etwas anderes.
Meiner Großmutter zufolge gab sie sich die Schuld am Tod meines Vaters. Wenn sie ihn nicht angeschrien, ihn nicht rausgeschmissen hätte, dann wäre er nicht in blinder Wut losgefahren. Und auch nicht bei Rot über die Kreuzung gerast.
Und so verwandelten die Schuldgefühle meiner Mutter den schönen Mann auf dem Foto in einen Helden.
»Aber er hat sie doch betrogen, Grandma!«
Meine Großmutter lächelte bloß und nickte. »Eines Tages wirst du das verstehen, meine liebe Annie.«
Meine Füße berührten kaum den Boden, als ich die Stufen hinunterflog. Auf dem Treppenabsatz im ersten Stock machte ich kurz halt, um die Arme in meine Jacke zu schieben und die harten, unnachgiebigen Stilettos wieder anzuziehen. Da hallte Marcs Stimme durchs Treppenhaus.
»Annie, attends! Warte!«
Aber genau das war es ja. Ich hatte doch gewartet. Ich hatte gewartet und gewartet, fünfzehn Jahre lang, um das hier herauszufinden! Durch das blank polierte Treppengeländer entdeckte ich ganz oben über dem Handlauf sein Gesicht. Der junge Mann, den ich geliebt hatte, hing jetzt über mir, im obersten Geschoss dieses alten Gebäudes. Im Laufe dieses einen verrückten Tages war die ganze Welt auf den Kopf gestellt worden. Irgendwo auf einem Stockwerk zwischen uns beiden öffnete sich knarrend eine Tür. Unser Auftritt war bühnenreif.
»S'il te plaît, Annie! Es ist nicht so, wie du denkst!«
Mir stand das Herz still. Diese Worte hatte ich schon einmal gehört - in Grandmas Geschichte über meinen Vater. Das waren seine Worte!
Ich griff nach dem Geländer, um weiter ins Erdgeschoss zu laufen, um diesem Wahnsinn zu entkommen, dieser Welt, die ich nicht mehr verstand. Doch meine Knie gaben unter mir nach. Ich hörte eine Frau schreien: »Nein! Ich will deine Ausreden nicht hören!« Es war ein leises, klägliches Jammern, das mir auf unheimliche Weise bekannt vorkam.
Während ich auf der obersten Stufe zusammensackte, wurde hinter mir auf dem Treppenabsatz eine weitere Tür geöffnet. »Chut!«, zischte ein alter Mann.
Da erst wurde mir bewusst, dass ich selbst es war, die diesen grauenhaften Schrei, dieses jämmerliche Geheul, ausgestoßen hatte.
Marc rief immer noch nach mir. »Annie, attends! Ich komme.«
Ich schaute hoch, doch sein Gesicht war aus dem Treppenhaus verschwunden. Dann jedoch hörte ich sie.
»Marc, qu'est-ce qui se passe? C'est qui, cette femme?« Wer ist diese Frau?
Ich hörte es an ihrem Tonfall. Das Gezwitscher des Rotkehlchens hatte sich in das Krächzen einer Elster verwandelt, laut und bedrohlich. Nein, das war keine Ex! Doch was mir den Magen umdrehte, war Marcs Antwort. Zusammengekrümmt saß ich auf den Stufen und überlegte, ob ich es wohl bis nach draußen schaffen würde. Seine Worte waren unverständlich, ein leiser Singsang, der die Treppe herunterschwebte. Aber ich hörte es an seiner Stimme, daran, wie er mit ihr sprach. Er versuchte, sie zu beruhigen, versuchte mit sanftem Gemurmel, die Elster zu beschwichtigen.
Jetzt war ich also die Ex.
Wenn ich nur frische Luft kriegen könnte, es nur noch diese letzte Treppe hinunterschaffen würde, wäre ich in Sicherheit.
Ich lief in die Metrostation Simplon - die praktisch vor seiner Haustür lag. Ohne zu überlegen, sprang ich in einen Zug in Richtung Porte d'Orléans. Es war wie ein Reflex, selbst nach all den Jahren noch. »Diese Linie«, hatte ich damals immer gesagt, »ist meine Rettungsleine.« Ich hatte sie immer genommen, wenn ich zur Arbeit fuhr oder kurz zurück nach Hause wollte, um noch ein paar Klamotten zu holen. Auch abends waren wir damit wieder nach Paris hineingefahren, wenn wir in ein Restaurant oder ins Kino gehen oder sonst etwas unternehmen wollten.
Jetzt aber musste ich in Réaumur Sebastopol in die Linie zur Porte de Bagnolet umsteigen. Es war lange her, doch ich fand den Weg zu meiner alten Wohnung noch, ohne dass ich den Metroplan dazu brauchte. Ich wanderte durch das Labyrinth der unterirdischen Gänge zu meinem Bahnsteig. Der penetrante Gestank nach Pisse verursachte mir Übelkeit und Klaustrophobie, genau wie früher. Und während ich im Gedränge auf dem Bahnsteig stand und einen alten Penner beobachtete, der uns alle anschrie, einfach, weil wir da waren, traf die Erkenntnis mich wie ein Blitz: Vielleicht würde ich Charlie nie wiedersehen.
Wenn Sie auf dem Bahnsteig einer belebten Metrostation stehen und laut weinen, wenn Sie die
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