Kostbar wie ein Tag mit dir - Roman
etwas gehabt - einen Anfall von Blinddarmentzündung -, gerade als Mr Payne ihr die Frage stellte: »Wie heißt die Hauptstadt von Litauen?« Bei seiner Piepsstimme bekamen wir alle Herzklopfen. Wir saßen stocksteif auf unseren Stühlen und hielten den Atem an, als Mary plötzlich laut aufschrie.
Man hatte sie in Windeseile ins Krankenhaus gebracht. Direkt vor den Fenstern unseres Klassenzimmers war der Rettungswagen wieder losgefahren, mit Blaulicht und Tatütata. Und Mr Payne hatte gekreischt, wir sollten uns wieder auf unsere Plätze setzen, sonst könnten wir was erleben.
Ich erinnere mich noch an die Worte meiner Mutter, als sie mich zur Schule fuhr, an ihre Blicke im Rückspiegel, während ich elend auf der Rückbank saß.
»Es gibt Dinge auf dieser Welt, denen muss man sich stellen, Annie MacIntyre - man muss sie einfach mit einem Grinsen ertragen.«
Aber ich weiß auch noch, dass ich überlegte: Warum eigentlich - warum soll ich so etwas ertragen? Noch dazu mit einem Grinsen? Es musste doch einen Weg daran vorbei geben.
11
H umpelnd wie ein verwundeter Soldat, der aus dem Krieg heimkehrt, war ich auf meinen Stilettos die schmale Straße hinaufgestöckelt. Zuerst war ich unsicher gewesen - war es wirklich dieses Sträßchen oder erst das nächste? Es war so lange her, und ich war müde und fror und fühlte mich hundeelend. Doch dann bemerkte ich die boulangerie, deren Fenster schon österlich dekoriert waren, und es fiel mir wieder ein. Hier waren Beattie und ich immer vorbeigekommen, wenn wir von der Arbeit nach Hause gingen. Der Bäcker, ein unerschütterlich fröhlicher Mann mit mehlbestäubten Unterarmen, über dessen runden Bauch sich eine weiße Schürze spannte, stand schnaufend und keuchend hinter der Theke, und auch wenn er manchmal kaum Luft bekam, fehlte es ihm doch nie an Sinn für Humor.
»Je vous aime!«, rief er, sobald wir in der Tür erschienen. Aber mit dieser Liebeserklärung begrüßte er alle jungen Frauen.
Ein Stückchen weiter, an der nächsten Ecke, fand ich dann auch das Haus: ein dreistöckiges Gebäude aus dem neunzehnten Jahrhundert mit hübschen Fenstersimsen. Hier hatten Beattie und ich drei Jahre lang gelebt. Unsere Dreizimmerwohnung befand sich im zweiten Stock.
Während ich meine alte lederne Schultertasche nach den Schlüsseln durchwühlte, verfluchte ich den ganzen Krimskrams, der jetzt keine Bedeutung für mich hatte - kleine Zettel, einzelne Münzen, entwertete Metro-Tickets, Haarklammern, sandige Tic Tac und alte Lippenstifte. Alles außer diesem verdammten Schlüsselbund. Daher bemerkte ich den schwarzen Schatten nicht, der mir in der dunklen Ecke neben dem Eingang auflauerte. Als er auf mich zutaumelte, schlug, aufgeschreckt durch meinen Schrei, irgendwo im Haus ein Hund an. Marc hatte auf mich gewartet.
»Annie! Chut!«
Da war es wieder - sein Chut! Aber ich war zu müde, um etwas zu sagen, zu müde, um zu protestieren.
Im Schlaf war ich in eine durch den Alkohol verstärkte Bewusstlosigkeit abgetaucht, sodass ich in den ersten Sekunden nach dem Aufwachen, bevor ich die Augen öffnete, ganz unbesorgt war, eingelullt von süßem Vergessen. Noch war mir nicht aufgefallen, dass ich weder die Tauben hörte, die in unserem Dörfchen immer direkt vor unserem Schlafzimmerfenster gegurrt hatten, noch Monsieur Martins Hahn mit seinem französischen »Coccorico« oder Charlies Zeichentrickfilm, die Rugrats auf Französisch, den er unten oft viel zu laut aufdrehte. Ich hatte es vergessen.
In dem kurzen Moment, bevor mir alles wieder einfiel, bevor ich die Augen aufschlug, nahm ich wahr, dass nebenan ein Föhn brummte, und ich begann zu überlegen. Dass jemand pfiff - hoch und zittrig -, bestätigte meine Vermutung. Beattie hatte immer gepfiffen und nicht besonders gut.
Auf einmal brach die Melodie ab. Vielleicht hatte mein langes, tiefes Stöhnen Beattie erschreckt. Ich hatte wie eine Kuh geklungen, die mit prallem Euter zum Melken zum Stall läuft. Ich biss mir auf die Unterlippe, sog die Luft ein und zog mir die Decke über den Mund. Die Gestalt, die bis dahin reglos neben mir gelegen hatte, bewegte sich jetzt und drehte sich auf die andere Seite. Ich wollte ihn nicht ansehen - noch nicht.
Ich hatte einfach schlafen und dann so aufwachen wollen, wie Dorothy nach ihrer Reise ins Land Oz zu Hause in Kansas wieder erwacht war, auch wenn mein Kansas Lherm hieß - ich wollte diesen grässlichen Albtraum hinter mir lassen, ihn mit einer guten, starken Tasse
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