Kostbar wie ein Tag mit dir - Roman
Eingang von Colangue. Der Wind trieb mir den Regen gegen die bloßen Beine, mein Rock klebte wie eine nasse Papiertüte auf meiner Haut, und ich zitterte. Als Carlo schließlich - wieder einmal zu spät - vorfuhr und die Autos hinter ihm halten mussten, rannte ich nach draußen. Ich hatte mir die Jacke über den Kopf gezogen, aber das war sinnlos, ich war ohnehin klatschnass.
Carlo fuhr nicht gleich wieder los, obwohl die Fahrer hinter ihm wütend hupten. Das machte ihm nichts aus. Um solche Dinge kümmerte er sich nie.
»Er war eben reich, très riche«, sagt Marc. »Er konnte es sich leisten, sich um so was nicht zu kümmern.«
Nein, das war es nicht. Für Carlo war das Leben ein Spiel, nichts weiter als ein Spiel. Daher schaute er mich einfach nur an, während der Verkehr sich hinter uns staute. Er strich mir durch das Haar und sagte: »Du bist ja ganz nass.«
»Das ist wirklich ein Wetter zum Junge-Hunde-Kriegen.«
Da klatschte er vergnügt in die Hände, offenbar gefiel ihm dieser Ausdruck. »Zum Junge-Hunde-Kriegen! Wirklich, Anna?«
Und auch das machte Carlos Zauber aus, dass er an ganz alltäglichen Dingen seinen Spaß hatte - dass er sogar meine schlichten Worte, diese alberne Übertreibung, in Poesie verwandelte.
Wir saßen auf wackligen, knarrenden Holzstühlen etwas versteckt oben im Querschiff und sahen auf das Ensemble hinunter, während die Musik zu uns emporstieg und von Steinmauern und Heiligenfiguren widerhallte.
Ich beobachtete, wie die Musiker leidenschaftlich ihre Bogen über die Saiten zogen, wie ihre Fingerspitzen gleich wild gewordenen Insekten über die Griffbretter rasten. Indessen griff Carlo unter meine nasse Bluse und ließ die Hand sanft über meinen Rücken gleiten, über meine feuchte Haut, sodass meine Nippel hart wurden.
Sünder.
17
M arcs Gesicht war wie versteinert - er biss die Zähne so fest zusammen, dass eine Ader in seiner Wange ärgerlich pochte.
»Du meinst, du triffst dich wieder mit ihm? Tu le vois toujours en fait, immer noch?«
Wir hatten vor einer Ampel angehalten, aber Marc heftete den Blick stur auf die Straße vor sich und umklammerte das Lenkrad. Wir waren zu meiner Wohnung unterwegs, in Richtung Place de la République, auf der alten Strecke, die wir so oft gefahren waren, bevor er anfing, mich mit zu sich nach Hause zu nehmen. Bevor sie anscheinend ausgezogen war.
»Nein, Marc, das meine ich überhaupt nicht.« Ich schwieg und betrachtete seine Hände, seine Knöchel, die weiß unter der Haut schimmerten. »Wie gesagt, er war heute Morgen bei mir im Unterricht.«
Die Ampel wurde grün, und wir fuhren wieder los, ein bisschen zu schnell für meinen Geschmack. Marc starrte zwar auf die Straße, aber ich sah, dass er über etwas nachdachte. Aus zusammengekniffenen Augen warf er einen raschen Blick in meinen Schoß, auf meine Hände, die darin ruhten.
»Was denkst du?«, fragte ich, obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass ich es wusste. Ich legte die rechte Hand auf mein linkes Handgelenk - zu spät.
»Deine Uhr. Was sagtest du noch, wo du sie wiedergefunden hast?«
Ich schwieg.
Diese Armbanduhr hatte mir praktisch von Anfang an gehört, sie war so alt wie unsere Beziehung, minus zwei Tage - sogar älter als Charlie. Ich hatte sie während seiner Geburt bei mir gehabt, von den allerersten Wehen um Mitternacht bis um elf Uhr vormittags, als sie mir sagten: »Annie, du hast einen wunderschönen Jungen.« Daher hatte ich sie huldvoll entgegengenommen, als Carlo sie mir heute Morgen überreichte - schließlich hatte sie mir ja längst gehört. Doch beim ersten Mal war sie in ihrer Schachtel geblieben. Ich hatte sie wie das Kleid ganz hinten im Schrank versteckt und erst wieder hervorgeholt, als sie mir irgendwann nichts mehr bedeutete, als die Erinnerungen an Carlo endgültig verblasst waren.
All die Jahre hatte sie unentwegt weitergetickt, auch als ich andere Uhren geschenkt bekam. Dann hatte ich Carlos Uhr weggelegt, in ihre Schachtel zurück, und den anderen Uhren den Vorzug gegeben, bis ich sie verlor oder bis sie den Geist aufgaben. Carlos Uhr hingegen hatte weitergetickt. Es war ein Paradox - dieses zuverlässige, aber unwillkommene Geschenk, das letzte von Carlo.
Warum also fragte Marc mich jetzt danach? Wir hatten doch keine Zeit - wir mussten einen Weg durch dieses Chaos finden. Zurück zu Charlie.
Wir hielten an der großen Kreuzung auf der Place de la République. »Il te l'a donnée ce matin, c'est ça?«
Ich nickte. »Ja, er hat sie
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