Kostbar wie ein Tag mit dir - Roman
meinen Platz drängte. »Du hast es so frisiert wie früher.«
Als wir einander gegenübersaßen, schaute ich Marc an und wartete auf sein Urteil. Vermutlich mangelte es mir immer noch an Selbstvertrauen, auch jetzt noch.
»Tu es belle.« Er musterte mein Gesicht. Prüfend betrachtete er meine Züge - wie ein Kunstkritiker, der ein Gemälde begutachtet.
»Na ja, deswegen bin ich auch so spät dran.« Ich griff mir an den Hinterkopf und befühlte mein Haar, schob die losen Strähnen wieder an ihren Platz und spürte dabei, wie mir eine verräterische Röte den Hals hochstieg. »Um das alles hochzustecken, habe ich ewig gebraucht - und unendlich viele von diesen blöden Haarnadeln.«
Marc lachte. Vielleicht sah ich wirklich so aus wie das Mädchen von früher, aber ich glaube nicht, dass ich noch so klang. Doch wenn ich an Carlo und meine Naivität damals dachte, war das bestimmt besser so. Marc schaute mich immer noch an, der kritische Betrachter. Sein Blick fiel auf mein Handgelenk, und da bemerkte er sie. »Du hast ja deine Uhr wiedergefunden.«
»Lass uns bestellen«, sagte ich rasch, »ich hab einen Bärenhunger.«
16
M it ungefähr siebzehn Jahren, als ich anfing, mit Jungen wegzugehen, hörte ich oft von meiner Mutter: »Eins darfst du nie vergessen, Annie MacIntyre: So was wie ein kostenloses Mittagessen gibt es nicht.«
Wie gesagt, meine Mutter war keine Romantikerin.
In meinen ersten Unterrichtsstunden mit Carlo fühlte ich mich gar nicht wohl in meiner Haut. Er saß mir in dem kleinen, sonnendurchfluteten Klassenraum, im vierten Stock von Colangue, gegenüber und lächelte. Sein dunkler, spielerischer Blick folgte mir, wenn ich aufstand und an die Tafel trat, und wenn ich versuchte, eine grammatische Frage zu erläutern, beobachtete er meine Hände. Auch wenn ich so tat, als würde ich es nicht bemerken, brachte er mich damit doch in Verlegenheit. Es machte mich nervös. Noch nie hatte jemand mir so viel Beachtung geschenkt. Das Blut stieg mir ins Gesicht. Diesem Mann konnte ich kein Englisch beibringen. Ich konnte ihm gar nichts beibringen. Ja, es war wirklich schwierig.
»Dummes ding!«, hätte meine Mutter gesagt.
Schon nach unserer zweiten Stunde lud Carlo mich zum Essen ein. Über den Tisch hinweg nahm er meine Hand, drehte sie um, strich mit den Fingern über meine Handfläche und weiter bis zu den Fingerspitzen, bevor er sie mit seinen Fingerspitzen flach auf den Tisch drückte. ich stellte mir vor, wie ich unter ihm lag, wie er mich mit den Hüften herunterdrückte, hier im Klassenraum, auf dem Fußboden, Haut an Haut. Trotzdem schloss ich meine Hand ganz fest und sagte Nein. Dabei war der Unterricht doch vorbei. Ich weiß nicht, warum ich ablehnte. Schließlich ahnte ich zu dem Zeitpunkt nicht einmal, dass Carlo verheiratet war. Wenn er in unseren Stunden über sein Leben sprach, benutzte er ausschließlich die erste Person Singular: »ich«. Er versprach sich nie, kein einziges Mal.
»Un professionnel«, sagt Marc.
Doch, das war er wohl. Anfangs war ich misstrauisch, ganz die Tochter meiner Mutter. ich war vierundzwanzig, und er war älter, viel älter als ich - weit über vierzig. Inzwischen erscheint mir das natürlich gar nicht mehr so alt, aber letztlich war es auch nicht sein Alter, das mich abschreckte. Carlo war der stellvertretende Direktor eines der größten Unternehmen in Frankreich. Er sah gut aus, war intelligent und einflussreich. Seine Macht kam in jeder seiner Gesten zum Ausdruck, schon in der Art, wie er mit den Fingern über meine Hand gestrichen hatte. Und er brachte mich zum Lachen. Aber ich hatte das Gefühl, dass er auch andere zum Lachen gebracht hatte. Er konnte alles haben, was er wollte. Warum ausgerechnet mich?
Dann tauchte er eines Tages nicht auf. Ich saß im Klassenraum und wartete. Kein Mensch erschien, um mir auszurichten, dass Monsieur Vitali später oder gar nicht kommen würde. So saß ich da und dachte nach - über ihn. Und mir wurde bewusst, dass ich enttäuscht war. Ich würde ihn jetzt bis zur nächsten Woche nicht sehen. An diesem Morgen hatte ich die Lidstriche ein bisschen sorgfältiger gezogen, als ich es sonst montags machte, und er war nicht erschienen.
Der nächste Montag kam, es war zwanzig nach acht, und wieder war Carlo noch nicht da. Ich saß im Klassenraum, ließ die Wanduhr nicht aus den Augen und fürchtete, dass er nicht mehr auftauchen würde, heute nicht und vielleicht nie mehr. »Warte nie auf einen Bus oder einen Mann!«,
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