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Kostbar wie ein Tag mit dir - Roman

Titel: Kostbar wie ein Tag mit dir - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Fraser
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hatte Grandma immer gesagt. »Der nächste kommt schon um die Ecke.« Aber bei Carlo war das etwas anderes, fand ich. Er war nicht irgendein Mann. Er war eben Carlo.
    Dann spazierte er plötzlich zur Tür herein, das Jackett lässig über die Schulter geworfen. »Buon giorno«, sagte er und setzte sich.
    Kein weiteres Wort - keine Erklärung, nichts. Also stand ich auf und begann mit dem Unterricht. Schließlich war ich bloß seine Englischlehrerin. Er aber war, wie die Schneekönigin mir warnend eingeschärft hatte, als sie ihn mir zugewiesen hatte, Colangues wichtigster Kunde. Allerdings sagte sie das immer.
    Schließlich, am Ende der Stunde, pünktlich auf die Sekunde, erhob er sich, um zu gehen. Das hatte er noch nie gemacht, er hatte nie auch nur einen Blick auf seine Armbanduhr oder die Wanduhr über meinem Kopf geworfen. Stets war ich diejenige gewesen, die den Unterricht beendet hatte. Unter Entschuldigungen hatte ich ihn aus dem Raum komplimentieren müssen mit dem Hinweis, dass meine nächste Klasse bereits auf mich wartete. Dann hatte er gelacht und so getan, als wäre er enttäuscht.
    »Ist das alles, was ich für Sie bin, Anna, bloß irgendein Schüler?« Er hatte mich am Ellbogen gefasst. Meine Haut war heiß geworden unter seiner Berührung.
    Heute jedoch hatte er es offensichtlich eilig; er ließ sich kaum Zeit für ein »Bis nächste Woche!«. Mit einem unpersönlichen Lächeln nahm er sein Jackett von der Stuhllehne, fuhr mit den Armen hinein, ergriff seine glänzend schwarze, makellose Aktentasche und wandte sich zum Gehen. Als er schon an der Tür war, hätte ich ihn fast gefragt: »Also bin ich bloß irgendeine Lehrerin für Sie?« Aber ich schwieg.
    Und er ging.
    Meine nächste Klasse war eine besonders langweilige, steife Gruppe aus fünf Elektroingenieuren von Dumon Aviation. Erst als ich die Stunde schon halb hinter mich gebracht hatte, bemerkte ich ihn - einen gefalteten Zettel, der im Plastikumschlag meines Unterrichtsordners steckte.
    Anna stand darauf. Ich lächelte und nickte ermutigend, als einer von den Dumon-Ingenieuren in seinem monotonen Englisch zögernd und mit starkem Akzent sagte: »I am learning English since a very long time.«
    »Wunderbar!« Mein Aufschrei war vielleicht ein bisschen zu enthusiastisch. Alle fünf Schüler schauten gleichzeitig von ihren Arbeitsblättern auf und fixierten mich misstrauisch wie Kampfpiloten. Bis zu diesem Moment hatte ich nämlich kaum mehr als ein ermutigendes Gebrummel herausgebracht, selbst bei den seltenen Gelegenheiten, wenn einer von ihnen tatsächlich etwas richtig gemacht hatte.
    Erst als sie fort waren, ich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte und endlich allein war, faltete ich den Zettel auseinander.
    Es war eine schlichte Nachricht. Da stand:
 
    »Gehen Sie mit mir essen. Heute Abend.
    Café de la Paix, Les Grands Boulevards, 20 Uhr.
    Diesmal bin ich pünktlich.
    Carlo«
 
    Stimmt, er war sehr professionell.
 
    Meine Mutter war es, die mich überredete, an jenem Abend Carlos Einladung anzunehmen. Dabei hatten wir über ein Jahr lang, seit der Trauerfeier für meine Großmutter, nicht mehr miteinander gesprochen. Aber in den zwanzig Minuten, die ich am Morgen auf Carlo gewartet hatte, als ich an meinem Pult saß und immer und immer wieder meinen Kugelschreiber klicken ließ, während die Uhr unbarmherzig weitertickte, hatte ich nicht nur an ihn, sondern auch an sie gedacht.
    Meine Mutter war nie einverstanden mit den Männern, die ich mir aussuchte. Sie hatte die zotteligen Freunde, die ich als Teenager einen nach dem anderen mit nach Hause brachte, oft mit meinem Vater verglichen.
    »Dein Vater«, hatte sie gesagt, »war nicht so.«
    Dann hatte Grandma sich augenzwinkernd eingemischt: »Nein, dein Vater war natürlich perfekt.«
    Seit ich mich erinnern konnte, hatte Mummy ihn als den perfekten Mann und perfekten Liebhaber hingestellt. Dieses idealisierte Bild von ihm war für sie immer der Maßstab geblieben. Seine Sünde hatte sie vergessen.
    Auch Carlo hätte Mutters Ansprüchen nicht genügt. Und genau das fand ich so anziehend an ihm - seinen Hang, über die Stränge zu schlagen. Er war gefährlich aufregend, das wusste ich von dem Moment an, als ich ihn im Klassenraum sitzen sah.
    Einmal hatte er mich zu einem Konzert eingeladen. In einer winzigen Kirche hinter dem Pariser Rathaus spielte ein Streichquartett.
    Es war ein Donnerstagabend im April, und es regnete in Strömen. Ich wartete am Boulevard Haussmann auf ihn, im

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