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Kottenforst

Kottenforst

Titel: Kottenforst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexa Thiesmeyer
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schoss ein silbergrauer Wagen am Haus vorbei. Kurz vor der Kreuzung beschleunigte er noch einmal. So was Unnötiges! Sie sah den Wagen um die Kurve fliegen, hörte die Reifen quietschen und schüttelte sich. Solche Fahrer waren ihr zuwider.
    Auf der Fahrbahn lag etwas. Ein Stück Pelz. In mattem Schwarzbraun. Der Wind wehte ein paar helle Haare auf. Sonst bewegte sich nichts. Ein überfahrenes Kaninchen oder eine –
    Erschrocken wandte sich Pilar vom Fenster ab. Die Filtertüten und die Dose ließ sie fallen, das Kaffeemehl stob über den Boden. Sie stürzte in die Diele, riss die Tür auf und preschte aus dem Haus, in einem brennenden Aufruhr, gegen den ihre bisherigen Empfindungen kaum mehr als kühle Aschehäufchen waren.
    Eine Katze!
    Jemand hatte Goethe überfahren! Zorn und Verzweiflung jagten sie quer durch den matschigen Vorgarten zwischen den stacheligen Büschen hindurch zu ihrem Kater. Jede Sekunde konnte eine letzte Chance bieten – bitte!
    Er war nicht tot. Seine grünen Augen blickten zu ihr auf. Sie beugte sich über den kleinen Körper und streckte beide Hände nach ihm aus. Goethe sprang auf, doch ein Hinterbein, das linke, hing schlaff auf dem Asphalt. Er stand auf drei Beinen, spannte sich zu einem weiteren Sprung, hielt inne und drehte sich halb um sich selbst, als störe ihn dahinten etwas, das es zu entfernen galt. Pilar strich mit den Fingerspitzen über seinen gekrümmten Rücken. Er blickte sie an und stieß ein klägliches »Miö« aus.
    »Das wird schon«, flüsterte sie zu ihm hinunter. Durch ihre Kehle schien kaum ein Wort zu passen.
    Behutsam legte sie die Hände um seinen schmalen Brustkorb. Er unternahm einen schwachen Versuch, sich ihrem Griff zu entwinden, ließ sich aber hochnehmen und ins Haus tragen. Hauptsache, keine inneren Verletzungen, dachte sie, lieber Gott, mach … Ach, sie war eigentlich nicht gläubig, aber in schlimmen Situationen stieg unwillkürlich die Formel in ihr hoch, mit der sie als Kind Lateinarbeiten, Zahnarztbesuche und dunkle Straßen bewältigt hatte.
    Sie trug den Kater die Kellertreppe hinunter, unter der, schon leicht angestaubt, die Katzentransportbox stand. Vorsichtig setzte sie Goethe hinein, schloss das kleine Gitter und schleppte Box und Kater die Treppe hinauf und zum Auto. Das klagende »Miö« verstummte, als sie durch einen kräftigen Tritt aufs Gaspedal rückwärts aus dem Carport schoss.
    Hinter ihr ein gellender Schrei.
    Pilars rechter Fuß sprang aufs Bremspedal, ihre Augen flogen zum Rückspiegel. Eine Frau stand mit aufgerissenem Mund direkt hinter dem Fiesta auf dem Fußgängerstreifen. Um ein Haar hätte das Heck sie erwischt. Obwohl sie mit ihrem breiten bunten Schal und dem roten Haar kaum zu übersehen war.
    Pilar riss die Autotür auf und sprang aus dem Wagen.
    »Entschuldigung, Anja!«
    »Sie hätten mich beinah umgebracht!« Anjas Stimme schwankte, ihr Unterkiefer zitterte.
    »Es tut mir leid. Meine Katze ist angefahren worden, ich muss schnell zum Tierarzt!«
    »Und da überfahren Sie Menschen, damit das Tier überlebt? Das wird noch Folgen haben!« Anja Dreisam zog ihren blau-rot-grünen Schal enger um Hals und Schultern und wankte hustend die Straße hinunter. Ein Bein zog sie leicht nach, als ob die Stoßstange sie am Unterschenkel getroffen hätte.
    »Sind Sie in Ordnung?«, rief Pilar ihr nach. Aber Anja drehte sich nicht um.
    Oje, dachte Pilar, während sie sich wieder ans Steuer setzte, nun werde ich erneut zum Ortsgespräch. Anja würde mit Sicherheit ihrem Ärger überall kräftig Luft machen; sie kannte viele Leute und war vermutlich auf dem Weg zum Bäcker oder zum Schreibwarenladen, wo sie sich mit Senta Bindelang über Pilars Verkehrsuntauglichkeit austauschen konnte. Immerhin würden auf diesem Wege alle erfahren, was mit Goethe passiert war, und manche hätten ein bisschen Mitgefühl. Aber nicht wenige würden womöglich sagen: »Geschieht ihr ganz recht.« Pilar entfuhr ein Seufzer. Alles hatte sich verändert.
    Gab es noch einen anderen Ort auf der Welt, wo so viele mitfühlende Menschen beisammen waren wie im Wartezimmer eines Tierarztes? Pilar hätte keinen nennen können. Über die trennenden Unterschiede von Hund, Katze und Zwergkaninchen hinweg war man sich einig in der Empörung: Dass jemand den Kater überfahren hatte, den Pilar vor Jahren an der spanischen Atlantikküste blind und hilflos neben seinem Bruder am Strand gefunden, vor der Flut gerettet und mit der Flasche großgezogen hatte, war ein

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