Kottenforst
Einfamilienhäusern. Die Neuerscheinungen auf dem Schreibtisch mussten warten, auch wenn es mit jedem Tag unwahrscheinlicher wurde, dass sie die ganzen Stapel rechtzeitig durchgearbeitet bekäme. Seit Goethes Unfall war sie vollends durcheinander. Was konnte sie tun? Den Kopf einziehen oder – ja, was oder ? Sie versuchte, das Dickicht aus Verletztheit und Ärger, das sie ausfüllte, zu durchdringen. Falls es ihr gelänge, Näheres über den Gewaltakt vom Samstagabend herauszukriegen – würde sie damit Anerkennung finden? Was für eine blödsinnige Überlegung! Sie würde bei ihren Ermittlungen hoffnungslos dilettantisch wirken und am Ende nur alle verärgern. Die Mordkommission arbeitete auf Hochtouren, irgendwas musste dabei herauskommen, das waren Profis. Und wenn die Kripo nichts herausfand, würde sie selbst noch viel weniger ausrichten, sie, die von realer Polizeiarbeit so viel Ahnung hatte wie vom Brückenbau.
Zum wiederholten Mal hatte Pilar das seltsame Gefühl, dass jemand sie persönlich hatte treffen wollen. Erst wurde ihre Premiere ruiniert, dann ihr Autoreifen aufgeschlitzt, jetzt ihr Kater fast getötet. Wie war das zu deuten? Dass nicht alle sie mochten, war klar, aber dass jemand solchen Hass gegen sie empfand, konnte sie sich nicht vorstellen. Ebenso wenig sah sie eine Verbindung zwischen sich und dem unbekannten Mörder, mochte er nun der sonderbare Mann im dunklen Gemeindehaus gewesen sein oder nicht.
Gemeindehaus – Himmel, wie spät? Sie war mit der Kommissarin verabredet! Verabredet gewesen. Wenn sie jetzt noch zum Gemeindehaus führe, käme sie drei Stunden zu spät. Wie peinlich! Pilar hielt am Fahrbahnrand und griff in ihre Manteltaschen. Aus der einen zog sie ihr Handy, in der anderen fühlte sie ein zerknicktes Kärtchen. Da war sie ja, die Karte mit der Durchwahl! Pilar tippte die Nummer ein.
»Entschuldigen Sie, Frau Ahrbrück … ich war … mein Kater … er ist …« Wieder so ein Gestammel. Die Kriminalbeamtin musste sie für eine Chaotin halten. Natürlich war sie das, aber sie hätte gern einen anderen Eindruck erweckt.
»Schon gut«, sagte die Kommissarin. »Wir haben das Warten irgendwann aufgegeben und uns ohne Sie noch mal umgesehen. Wir wissen, wo die Kiste Ihrer Meinung nach gestanden haben muss. Das wirft natürlich ein anderes Licht auf die Sache.« Ihre Stimme klang kühl. »Wenn Ihnen noch etwas einfällt, lassen Sie es uns wissen. Aber bitte so schnell wie möglich.«
Pilar glaubte herauszuhören, was die Kommissarin dachte: Sie hätte sich sofort erinnern müssen. Nicht erst sechs Tage später. Durch ihre Unfähigkeit, beizeiten ihre Erinnerungen zu ordnen, hatte sie die Ermittlungen behindert.
Sie starrte auf das graue Display ihres Handys. Schon wieder etwas vergessen. Die Kommissarin wusste noch nichts von dem Mann, dem Pilar im Gemeindehaus begegnet war. Vielleicht ganz gut so. Mit einem Mal hatte Pilar das Gefühl, dass der große, nicht mehr junge Mann, der fest und ungleichmäßig auftrat, nicht der Mörder sein konnte. Wie ein Traumbild sah sie einen viel unauffälligeren Menschen vor sich, der mit leichterem Tritt auf weichen Sohlen aus dem Saal schlich, als der Lärm am größten war.
NEUN
Es kam immer wieder hoch. Während der Matheklausur, die sie verkackt hatte, bei dem Referat über Effi Briest, wo sie einen totalen Blackout hatte, selbst während ihrer Fahrstunde beim Überholen eines Lasters – immer stieg der Gedanke in ihr hoch wie ein Rülpser zur unpassenden Zeit: Einer kennt den Mörder. Einer aus der Gruppe. Und der Mörder kennt uns. Er hat uns am Weiher gesehen, er weiß Bescheid. Sie musste das vergessen, die ganze Geschichte. Sonst würde sie noch durchs Abi rasseln und durch die Fahrprüfung sowieso.
Aber wer aus der Gruppe kannte jemanden, der mit dem Messer – halt! Es fiel Sarah so plötzlich ein, dass sie mit dem Fuß auf den Boden stampfte, ausgerechnet in einem Edel-Schuhladen und ausgerechnet mit den teuren Dingern, den roten High Heels, die sie gerade anprobierte. Sie schielte hinüber zur Verkäuferin, aber die quatschte mit einer Kollegin und hatte nichts gemerkt.
Bea, die kannte einen. Sie hatte früher zur Gruppe gehört, und wo sie wohnte, gab es mal eine Messergeschichte. Der Brüser Berg sei so eine Gegend, hatte irgendwer gesagt. Sarah zog ihr Handy heraus. Also Bea anrufen. Hier ging das ganz gut. Während sie wartete, dass Bea dranging, stolzierte sie auf den hohen Absätzen vor dem Spiegel auf und ab.
Weitere Kostenlose Bücher