Kottenforst
früher.
Und nun sollten sie alle so tun, als wäre der Kasten überhaupt nicht da gewesen und als hätte das Messer einfach so herumgelegen, damit bloß keiner auf die Idee kam, dass einer das Ding rausgetragen haben könnte. Wer das wohl war? Kevin wahrscheinlich. Sarah konnte sich vorstellen, dass er die Geschichte mit dem Werkzeug geglaubt hatte. Kevin war dumm wie Brot, das war ihr bisher nicht so aufgefallen, sie hatte ja immer die rosarote Wir-sind-eine-Gruppe-und-haben-uns-alle-lieb-Brille aufgehabt. Jetzt betrachtete sie die anderen viel kritischer, vor allem Tommy mit seinem Bossgehabe. Warum tat er so, als wäre das alles ganz normal, merkte er nicht, dass der angebliche Zufall gewaltig zum Himmel stank?
Die Ampel am Konrad-Adenauer-Damm war grün. Auf der rechten Seite konnte Sarah schon die Uhlgasse sehen, die sie hinunterfahren wollte. Sie schwenkte nach rechts, um die Fahrbahn zu überqueren. Ein Auto hupte und bremste quietschend neben ihr.
Vor Schreck riss Sarah den Lenker herum und kippte, konnte sich aber gerade noch fangen. Das war knapp, sie musste aufpassen! Sonst war’s das mit Abi und Führerschein, sie wäre vorher tot. Das Auto fuhr wieder an. Es war eine Art Oldtimer, eine braune Ente. Vielleicht die Ente vom Kurfürstenplatz, wo sie vorbeikam, wenn sie von Lengsdorf zur Theatergruppe nach Röttgen fuhr.
Während Sarah die Uhlgasse hinunterrollte, musste sie daran denken, dass sie gestern Nacht so gerne von Yannick geträumt hätte. An Silvester hatte sie sich zwar vorgenommen, vor dem Abi nichts Männliches mehr anzugucken, aber Träumen war ja unschädlich. Wenn es wenigstens geklappt hätte … Statt von Yannick hatte sie von lauter Polizisten geträumt, die den Kottenforst mit langen Spaten umgruben. Das war völlig daneben, denn in Wirklichkeit war es ganz anders gewesen: Die Polizei hatte Spürhunde suchen lassen. Stück für Stück hatten sie den Wald bei Röttgen durchkämmt. An der Villiper Allee hatten Wagen mit Hundeanhängern geparkt, Max hatte sie gesehen. Am nächsten Tag stand es in der Zeitung. Sie erinnerte sich noch genau daran, dass ihr kotzübel wurde, als ihre Mama ihr vorlas, was da abgegangen war. Die Hunde hatten am Kurfürstenweiher Laut gegeben, und die Polizei war im Schlamm des Tümpels auf etwas gestoßen … Nach ein paar Tagen konnte Sarah wieder essen. Es wusste ja keiner, dass sie am Weiher gewesen waren. Hatte sie jedenfalls gedacht.
Das Allerschlimmste war, mit niemandem drüber reden zu können. Mit der Gruppe lief überhaupt nichts mehr, abgesehen von dem Treffen gestern Abend, wo es beinah Streit gegeben hatte. Nicht mal Anna war so wie früher. Sie war heut komisch gewesen, total gestresst. Geschwister müsste man haben, eine Schwester, die zuhören konnte, oder einen Bruder. Es reichte nicht, einen Papa zu haben, der in Berlin arbeitete und nur jedes zweite Wochenende nach Bonn kam, und eine Mama, die dauernd bei der Oma im Krankenhaus saß und zu Hause wegen Omas Darmkrebs rumheulte. Und Mama wurde jedes Mal noch viel trauriger, wenn sie hören musste, dass bei Sarah wieder etwas schieflief.
* * *
Die Ente röhrte heiser, als Freddy mit ihr den Ückesdorfer Hang hinauffuhr. Es klang nicht gesund. Auf dem Bürgersteig blieb ein alter Herr stehen und blickte sich nach dem lärmenden Wagen um. Freddy erkannte ihn. Es war der Vater einer Schulfreundin, Herr Zoppert, der mehr als ein halbes Jahrhundert Ückesdorf erlebt hatte – spektakulär! Freddy lachte, hielt an und kurbelte das Seitenfenster herunter.
»Ah, unser Privatdetektiv!«, rief Herr Zoppert. »Was macht die Kunst?«
»Heute will ich nur rauskriegen, warum sich zwischen Ückesdorf und Röttgen die ›Hölle‹ befindet!«
Herr Zoppert lachte. »Da sind Sie bei mir richtig. Das war früher eine Art Hohlweg mit einem kleinen Steg darüber. Aus hohl wurde dann ›Hölle‹.«
»Sind Sie sicher?«, fragte Freddy.
»Nicht ganz«, räumte Herr Zoppert ein.
»Trotzdem danke. Ich kriege das noch raus.«
Freddy fuhr weiter und stellte die Ente in der Parkbucht gegenüber von Pilars Haus ab. Als er ausstieg und abschloss, kam ihm das braune Blech stumpf und schäbig vor. Ihm entfuhr ein Seufzer. Der alte Wagen würde es nicht mehr lange tun. Er fürchtete sich vor dem Ende der Ente, sie war ein wichtiger Bestandteil seines Lebens. Frauen und Jobs wechselten, aber der Deux Chevaux stand seit zwei Jahrzehnten vor dem Häuschen am Kurfürstenplatz in Röttgen, erst links von der Tür und
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