Kottenforst
Nächstenliebe? Oder glaubte er ihr nicht?
»Mit dem gebrochenen Schlüsselbein geht es nicht.«
»Nein?«
»Könnte Dieter Breuer mir die Sachen bringen?«
»Herr Breuer liegt krank im Bett. Schicken Sie einfach Ihren Mann.«
»Bis dreizehn Uhr? Er ist auf Dienstreise.«
»Dann eben jemand anders. Sie haben doch Söhne.«
»Aber die sind –«
»Ich kann das nicht länger erörtern«, unterbrach der Pfarrer ungeduldig. »Ich habe gleich Sprechstunde, muss den Schulgottesdienst vorbereiten und mittags zu einer Sitzung beim Superintendenten fahren. Ich kann mich auf Sie verlassen?«
Er legte auf, ohne ihre Antwort abzuwarten. Pilar atmete tief durch. Nicht einmal der Pfarrer schaffte es, freundlich zu ihr zu sein.
Den Saal räumen, alles abtransportieren … Wie sollte sie das hinkriegen? Einhändig Auto fahren? Rita anrufen? Die Küsterin konnte mit anpacken, hatte aber nie den Führerschein gemacht, weil sie sich weigerte, aktiv am tödlichen Wahnsinn des Straßenverkehrs teilzunehmen. Und Dieter lag mit all seiner Hilfsbereitschaft krank im Bett.
Erst mal Kaffee aufsetzen. Es würde sich eine Lösung finden. Aber bis dreizehn Uhr? An einem Dienstagmorgen? Pilar nahm die Dose, die Richy mit frischem Kaffeemehl gefüllt hatte, aus dem Regal und sah dabei aus dem Fenster. Eine Frau mit wehendem weißem Halstuch kam die Straße herauf und blieb vor Ebels Haustür stehen – Frau Fischmann, diesmal nicht im schwingenden Mantel und auf hohen Hacken, sondern in einer schmal geschnittenen taubenblauen Jacke und auf flacheren Absätzen modischer Stiefeletten. Eine schicke Frau. Pilar konnte sich gut vorstellen, dass Mann und Sohn sie liebten und bewunderten. Mit Sicherheit hatte sie immer alles im Griff, die Familie, ihr Outfit und natürlich die Wohnung.
Frau Fischmann zog einen Schlüsselbund aus ihrer großen Umhängetasche und schloss die Tür auf. Nogger stürzte ihr entgegen und schien sich vor Freude kaum beruhigen zu können. Er kaute hektisch auf etwas herum, anscheinend hatte er ein Leckerchen bekommen. Es ging ihm gut bei der neuen Betreuerin. Pilar hatte nie Leckerchen dabei.
Während sie zusah, wie Frau Fischmann die Hundeleine am Halsband einhakte, kam Pilar eine Idee, die sie aber sogleich wieder verwarf. Nein, das konnte sie nicht fragen! So ein Anliegen musste unverschämt klingen. Frau Fischmann war bis vor Kurzem sehr krank gewesen. Außerdem kannte Pilar sie nicht gut genug, sie arbeitete noch nicht lange im Schreibwarenladen, höchstens ein Jahr.
Mit einer entschiedenen Armbewegung trat Pilar einen Schritt vom Fenster zurück. Dabei stießen ihre Fingerknöchel gegen die Scheibe. Frau Fischmann schaute herüber. Sie nahm wohl an, Pilar hätte absichtlich geklopft. Auch der Hund wandte sein trübes Auge und die leere Augenhöhle dem Fenster zu. Frau Fischmann deutete mit fragendem Gesichtsausdruck auf Pilars Oberkörper. Wir sollten über Gardinen nachdenken, dachte Pilar. Sie öffnete das Fenster.
»Sie Ärmste!«, rief Frau Fischmann ihr zu. »Tu es sehr weh?«
»Ist nicht so schlimm.«
Nogger hatte Frau Fischmann inzwischen über die Straße gezogen, der vertrauten Stimme entgegen. Beide standen nun am Rand des Vorgartens neben dem kahlen Zierapfelbusch.
»Ich helfe gern, wenn Sie irgendetwas brauchen«, sagte Frau Fischmann.
»Nein, danke, nicht nötig.« Was für eine unehrliche Floskel!
»Wirklich nicht?«
»Sie haben auch wenig Zeit, Frau Fischmann.«
»Heute muss ich nicht arbeiten. Senta ist den ganzen Tag selbst im Laden.«
Sekunden später stand Frau Fischmann vor der Haustür. Nogger streckte die Nase über die Schwelle und schwänzelte.
»Was kann ich für Sie tun?«
Sie hat schöne graue Augen, dachte Pilar. Und so einen tiefen Blick, der sie klug und nachdenklich wirken lässt. Warum arbeitete sie im Schreibwarenladen? Senta Bindelang hatte mal erwähnt, dass Frau Fischmann ihren Beruf als Lehrerin aufgesteckt hatte. Vielleicht war sie erkrankt oder der Anstrengung nicht mehr gewachsen, man hörte so oft, dass Lehrer es immer schwerer hätten. Im hellen Morgenlicht fielen in ihrer Haut zahlreiche Linien und Fältchen auf, in denen sich bräunliches Make-up abgesetzt hatte. Von Weitem wirkte sie jünger.
»Ich muss bis ein Uhr die Theatersachen im Gemeindehaus abholen«, sagte Pilar.
»Das können Sie doch nicht!«, rief Frau Fischmann aus.
»Richtig. Ich kann den linken Arm nicht belasten und soll nicht Auto fahren.«
Frau Fischmann lächelte. »Kein Problem.
Weitere Kostenlose Bücher