Kottenforst
Verletzungen, konnte sie nicht in der Lage sein, sich ernstlich zu wehren. Gleichwohl bin ich zurückgewichen. Sie schlug mit etwas Hartem, Scharfem um sich, es streifte mein Bein. Ich ahnte doch nicht, dass sie im Bett bewaffnet war!
Die Chance hatte ich nicht nur ihrer Behinderung zu verdanken, sondern auch dem Schlüssel, den ich in der Nacht zum Sonntag erlangt hatte, Zufall oder Schicksal, nenn es, wie Du willst. Im Schutze der Dunkelheit stand ich in ihrem Garten, das Wohnzimmer war hell erleuchtet. Ich wollte mir ein Bild davon machen, wie stark sie verletzt ist, sah aber nur den Mann beim Fernsehen mit der Zahnbürste im Mund. Fett geworden ist er, das liegt an der spanischen Küche. Als ich schon aufgeben wollte, läutete drinnen das Telefon. Es war wohl der Sohn, wer ruft sonst so spät an. Nach einigem Palaver schaltete der Mann das Außenlicht an und ging auf die Terrasse. Er beugte sich zu einem Kästchen hinunter und legte etwas hinein.
Ich hielt in der Kälte aus, bis alle Lichter gelöscht waren. Meine Geduld wurde belohnt: In einem rostigen Ding, das früher wohl als Windlicht benutzt wurde, lag, was meinen Plänen wunderbar entgegenkam, der Haustürschlüssel. Natürlich habe ich den noch, aber ich fürchte, sie bleibt nicht mehr allein oder lässt ein neues Schloss einbauen.
Worauf ich mit aller Kraft hoffe, weißt Du: ein klares Signal, dass sie ihm nichts bedeutet. Doch wenn ich es nicht erhalte? Du kennst die Antwort.
In Liebe,
Chris
SECHZEHN
Kaum war Pilar wieder zu Hause, fiel das Heroische von ihr ab wie ein Umhang aus billigem Tüll. Als die Kriminaltechniker fort waren und sie allein durch die Räume ging, fühlte sie sich schwach und verletzlich. Das Haus kam ihr fremd vor, entweiht, besudelt. Sie musste sich überwinden, ins Schlafzimmer zu gehen und die Rollläden hochzuziehen, um das Grau des dämmernden Tages hereinzulassen. Sie fuhr zusammen, als unterm Schreibtisch ein zartes »Miö« ertönte. Goethe! Den hatte sie ganz vergessen. Tränen begannen ihre Augen zu füllen, während ihre Finger durch das getigerte Fell glitten. Ein Seelsorger wäre nicht schlecht gewesen, aber ein Kater tat es auch.
Es gab einiges, das sie regeln musste. Vor allem den Schlüsseldienst anrufen. Dazu brauchte sie das Telefonbuch, das unter einem Stapel schwerer Bildbände ruhte. Sie konnte auch im Internet nachsehen. Nein, zuerst musste sie sich setzen, die Füße hochlegen und die Augen schließen. Sie war so erschöpft.
Pilar ließ sich aufs Sofa hinab und legte den Kopf gegen die Rückenlehne. Lauschte den entfernten Geräuschen vorbeifahrender Autos und eiliger Schritte auf dem Weg zur Bushaltestelle. Dachte an die beruhigende Tatsache, dass jeder annehmen musste, hier seien mindestens vier Personen mit Aufstehen beschäftigt, weil in allen Räumen Licht brannte. Spürte, wie sie wegsackte, wie sie zu schnarchen begann, und ließ es geschehen.
Sie wachte auf, als die »Marcha Real« durchs Zimmer dröhnte. In gewisser Hinsicht bin ich ganz Spanierin, dachte sie, bei diesen Tönen bin ich sofort hellwach. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Schon Viertel nach neun – autsch! Eine falsche Bewegung, zu schnell aufgerichtet. Der Schmerz lähmte sie sekundenlang. Das Telefon gab nicht auf. Vorsichtig erhob sie sich vom Sofa und ging mit gemessenem Schritt vorwärts, wie er zum Marsch der spanischen Könige passte.
»Álvarez-Scholz.«
»Gut, dass ich Sie erreiche. Hier ist Pfarrer Herbert.«
Statt einer Begrüßung gähnte Pilar, es ließ sich nicht unterdrücken. Der Pfarrer schien kein Guten Morgen zu erwarten und hielt sich auch selbst nicht mit Höflichkeitsfloskeln auf. Er kam sofort auf sein Anliegen zu sprechen.
»Wir brauchen den Saal. Räumen Sie ihn bis spätestens dreizehn Uhr bitte vollständig.«
»Heute? Ich habe mir am Samstag das Schlüsselbein gebrochen.«
»Warum haben Sie die Sachen nicht am Donnerstag geholt?«
»Ich sollte doch warten, bis Sie mich anrufen.«
»Das habe ich für überflüssig gehalten, weil ich Ihr Auto hier stehen sah. Was haben Sie denn im Gemeindehaus gemacht?«
Seine Stimme klang metallisch hart und gereizt. Wie lang war er schon in der Gemeinde am Kottenforst? Ein halbes Jahr? Der frühere Pfarrer, der nun im Ruhestand war, hatte nie so gesprochen; bei ihm hatte jeder Satz geklungen, als läse er aus der Bibel vor.
»Ich kann unmöglich räumen und packen«, sagte Pilar.
»Wieso nicht?«
War der Mann nicht christlicher Pfarrer? Wo blieb die
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