Krach der Kulturen um einen Fahrstuhl an der Piazza Vittorio - Roman
wir vor unserer Hochzeit getroffen hatten: Die Vergangenheit ist wie ein schlafender Vulkan, und man vermeidet besser alles, was ihn wecken könnte. Das Wort Bàgia hat sich in mein Hirn eingegraben, und ich habe herauszufinden versucht, was es bedeutet. Ich fragte einige arabische Kunden, die ab und an ins Reisebüro kommen, aber ich konnte das Geheimnis noch nicht lüften.
Nein. Ich sage, es gibt keine Verbindung zwischen dem Mord an Lorenzo und Amedeos Verschwinden. Ich bin sicher, dass Amedeo unschuldig ist. Es gibt nicht ein einziges Motiv, das ihn zu diesem furchtbaren Verbrechen hätte bewegen können. Der Gladiatore, das weiß man ja, war unter den Hausbewohnern nicht besonders beliebt. Er hat alle verletzt, ohne sich je bei irgendwem zu entschuldigen. Es ist nicht in Ordnung, so über Amedeo herzufallen. Fragen Sie die Leute an der Piazza Vittorio nach Amedeo und Sie werden feststellen, dass alle ihn gern haben. Wenn jemand Hilfe nötig hatte, war er da, ohne irgendeine Gegenleistung dafür zu erwarten.
Es ist ihm beispielsweise gelungen, die Bengalen dazu zu bewegen, ihre Frauen zum Unterricht zu schicken. Das war ein schwieriges Unterfangen, und Amedeo hat es geschafft. Für diese Frauen ist die Schule eine Möglichkeit, sich zu treffen, miteinander zu sprechen und aus ihren vier Wänden herauszukommen. Oder besser gesagt, ist dies für sie ein wirklich stichhaltiger Vorwand, ihrem Gefängnis zu entfliehen. Viele dieser Frauen fühlen sich in der Fremde, so weit weg von ihrer Heimat, schrecklich einsam. Dennoch bleiben sie lieber in Italien, weil das Flugticket teuer ist und sie es sich nicht leisten können. Viele Bengalen reisen nur alle fünf Jahre oder noch seltener in ihr Heimatland. Dass sie sich austauschen können, hilft ihnen, die Traurigkeit zu vergessen, die Ängste, das Heimweh und das Fehlen ihrer Lieben. Die Männer sind ganz furchtbar verschlossen. Sie leben wie in Dhaka, essen Reis, tragen bengalische Kleidung und sehen sich Filme auf Video an. Ich frage mich oft: Leben sie tatsächlich in Rom?
Ich weiß nicht, wo er jetzt ist und ich habe Angst, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte. Ich suche ihn immer noch überall und hoffe, dass es ihm gut geht. So viele Verhöre rund um das Verschwinden von Amedeo wegen dieser furchtbaren Mordanschuldigung. Aber ich bin optimistisch und von seiner Unschuld überzeugt. Ich werde ihn immer und ohne Unterlass verteidigen.
Neunter Wolfsgesang
Sonntag, 4 . Juni, 22 . 33 Uhr
Wie ein Neugeborenes brauche ich an allen Tagen Milch. Italienisch ist meine tägliche Milch. Stefania ist mein Leben, das heißt, meine Gegenwart und meine Zukunft. Ich liebe Stefania, weil sie so ungeheuer lebendig ist. Und ich beneide sie um ihre alptraumfreien Erinnerungen. Ich möchte, dass sie mein Leben, meine Liebe und meine Zukunft ansteckt und mich zu heiterem Wolfsgesang anstiftet. Auuuuuuuuu …
Montag, 17 . November, 23 . 57 Uhr
So viele Menschen erleben ihre Arbeit wie eine tägliche Strafe. Ich hingegen liebe meine Arbeit als Übersetzer. Sie ist wie eine Reise: Man muss von einem Meeresufer zum anderen über-setzen. Und manchmal denke ich auch, dass ich ein Schmuggler bin: Ich überquere die Grenzen der Sprache mit meiner Beute an Wörtern, Ideen, Bildern und Metaphern.
Mittwoch, 29 . September, 23 . 09 Uhr
Arme Stefania, sie macht sich wegen mir Sorgen, sie glaubt, ich hätte Magenschmerzen. Das Problem ist, dass der Magen meiner Erinnerung nicht alles gut verdaut hat, was ich schlucken musste, bevor ich nach Rom kam. Meine Erinnerung ist wie ein Magen – hin und wieder kommt mir alles wieder hoch. Dann speie ich ununterbrochen Erinnerungsblut. Ich leide nämlich an einem Erinnerungsgeschwür. Ob es ein Mittel dagegen gibt? Ja: zu heulen wie ein Wolf! Auuuuuuuuuuu …
Sonntag, 9 . März, 23 . 17 Uhr
Heute habe ich den Roman
Leo Africanus
von Amin Maalouf zu Ende gelesen. Diese Passage habe ich so oft gelesen, bis ich sie auswendig konnte: »Ich, Hassan, Sohn von Mohamed, dem Waagemeister, ich, Johann Leo von Medici, beschnitten von der Hand eines Barbiers und getauft von der Hand eines Papstes, werde heute Africanus genannt, doch ich komme nicht aus Afrika noch aus Europa oder Arabien … Ich bin ein Sohn der Straße, meine Heimat ist die Karawane und mein Leben ist eine Reise voller Überraschungen.« Es ist einfach wunderbar, sich aus allen Fesseln der Identität, die einen ins Verderben führen, lösen zu können. Wer bin ich? Wer bist du? Wer sind
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