Krach der Kulturen um einen Fahrstuhl an der Piazza Vittorio - Roman
ohne sich um Details zu kümmern und einander lästige Fragen zu stellen.
Ich gestehe, dass sich unsere Beziehung noch immer in der Phase des Umeinanderwerbens befindet und weit entfernt ist von jeglicher Langeweile und Routine. »Leidenschaft ist eine Wundertüte, voller Überraschungen«, heißt es am Anfang eines schönen Liedes. Verliebte Paare stoßen an ihre Grenzen, wenn sie der Versuchung erliegen, alles über den anderen wissen zu wollen. Das schafft Langeweile. Und die erstickt Liebe und Leidenschaft schneller, als man gucken kann. Der wirklich Liebende zeigt sich nie ganz. Wissen Sie, warum Menschen die Tuareg bestaunen und bewundern? Weil sie ihr Gesicht nicht zeigen. Das Geheimnis der Götter liegt im Mysterium. Das Wunderbare ist von Natur aus mysteriös. Mir tun Frauen leid, die sagen: »Ich kenne meinen Mann in- und auswendig.« Oder: »Ich bin eifersüchtig und lasse meinen Verlobten keine Sekunde aus den Augen.« Ich frage mich oft, was Liebe mit Kontrolle und detektivischer Beschattung zu tun hat. Ich will keine Details, weil sie’s uns unmöglich machen zu träumen und uns Dinge auszumalen.
Amedeo hat es nicht mit der Vergangenheit. Er sagt oft, die Vergangenheit sei wie Treibsand; sein Heil könne man darin nicht finden. Amedeo ist so voller Geheimnisse wie die Sahara – und es ist schwierig, die Geheimnisse der Sahara zu erfassen. Einmal habe ich einer alten Frau aus Mali zugehört; sie sagte etwas, das ich in mir aufbewahrt habe wie kostbare Perlen: »Vertraue niemals den Saharaführern. Sie sind wie Satan, für alle Zeiten verflucht, denn die Sahara mag arrogante Menschen nicht. Der anmaßenden Behauptung, sie zu kennen, folgt die Bestrafung unausweichlich auf dem Fuß: Tod durch Verdursten. Bescheidenheit ist die einzige Sprache, die die Sahara kennt.« Vor einigen Jahren lernte ich einen isländischen Touristen kennen, der mir etwas Ungewöhnliches sagte, dass nämlich die Fischer der Gegend, in der er lebte, nicht schwimmen können, weil sich bei Schiffbruch nicht rettet, wer schwimmen kann, sondern wer dem Meer gehorcht, sich ihm unterordnet und ganz ergibt. Zwischen dem Meer und der Sahara gibt es keinen Unterschied.
Ich schäme mich nicht dafür, dass ich Amedeo nicht gut kenne, obwohl wir schon so viele Jahre zusammen sind. Unsere Beziehung ist eine offene Reise voller wunderbarer Überraschungen und hinreißender Entdeckungen. Ich arbeite schon lange mit Touristen aus der ganzen Welt, und meiner Meinung nach macht man als Tourist den Fehler, in wenigen Tagen übereifrig alles wissen und entdecken zu wollen. Ich habe den Reisenden sehr häufig empfohlen, sich zu gedulden und nicht so herumzuhetzen. Eine schöne Reise geht nie zu Ende, weil sie das Versprechen auf den Beginn einer neuen Reise bereits in sich trägt. Das ist wie in den Erzählungen von Sheherazade, die nie aufhören und immer neu beginnen. Die schöne Sheherazade rettet sich vor der Rache des von seiner Ehefrau betrogenen Sultans Shahrayar durch ihre
Geschichten aus Tausendundeiner Nacht
. Immer beim ersten Hahnenschrei unterbricht sie ihre Erzählung, um den Faden in der darauffolgenden Nacht wieder aufzunehmen. So geschah es, dass sie sich und die anderen Frauen vor dem Tod bewahrte.
Amedeo leidet an Magenschmerzen, seit ich ihn kenne. Deshalb schließt er sich oft für lange Zeit in unserem kleinen Bad ein, bevor er zu Bett geht. Er hat viele Untersuchungen über sich ergehen lassen, sämtlich ohne Befund. Alle Ärzte, bei denen er war, sagten, dass sein Magen gesund sei. Er hat die Angewohnheit, sich jeden Abend für lange Zeit mit einem Kassettenrecorder in dem kleinen Badezimmer einzuschließen, um Musik zu hören, die Nerven zu beruhigen und sein Inneres zu entspannen, wie er sagt. In einer wissenschaftlichen Zeitschrift las ich, dass der arabische Arzt Avicenna seine Patienten mit Musik behandelte. Amedeo leidet immer mal wieder unter Alpträumen. Ich hab ihn nie irgendwas gefragt, weil »ein Alptraum das Fenster ist, durch das die Vergangenheit in Diebesgestalt hereinsteigt«, wie es ein französischer Schriftsteller einmal ausdrückte.
Viele Male habe ich ihn unverständliche Wörter sagen hören. Einmal fuhr er aus einem Traum hoch, rief »Bàgia! Bàgia!« und schwitzte, als sei er soeben der Hölle entflohen. Tags darauf konnte ich meine Neugier nicht zügeln und fragte ihn, was Bàgia bedeute. Er sagte nichts darauf und sah mich vorwurfsvoll an, vielleicht, um mich an die Vereinbarung zu erinnern, die
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