Kräuter-Code: Zehn Kurzgeschichten aus dem schwulen Leben (German Edition)
Nubuk-Sitzmöbel komplimentiert hat.
Im Stillen fragt Georg sich, warum sie so offen mit ihrer Identität umgeht. Dann kommt ihm in den Sinn, dass die Männer, die hier verkehren, sich kaum ihre Züge einprägen
werden. Wer es gern in den eigenen Reihen treibt, merkt sich nicht das Gesicht der Concierge.
“Er hat gleich Zeit für dich”, lächelt sie ihm entgegen, noch bevor er sich bequem hinsetzen kann.
Kurze Zeit später bringt sie ihn endlich nach oben: “Du weißt ja Bescheid.”
Damit öffnet seine Begleitung die Tür, lässt ihn eintreten und schließt sie in seinem Rücken.
Georg ist allein.
Beim ersten Mal hat er nicht Bescheid gewusst, die Atmosphäre des Raumes hat ihn gleichermaßen erregt und verstört. Diesmal wissen seine Augen bereits von den Möbeln, den
Gerätschaften, den Halterungen an Wand, Boden und Decke. Der kaum wahrnehmbare Duft von Stahl, Holz und Leder beruhigt seine Nerven, die spätestens jetzt wissen, was ihnen bevorsteht.
Verdeckte Strahler werfen weiches Licht gegen dunkle Wände, ohne zu viel Helligkeit zu erzeugen. Von irgendwoher dringt eine Mischung aus Metal- und Raveklängen in den Raum.
Für den Augenblick verharrt Georg, dann verschwindet er hinter einem Paravent, um sich auszuziehen. Es ist kein Akt der Schamhaftigkeit, sondern pures Zweckdenken. Auf diese Weise ist seine
Kleidung sicher vor etwaigen Verunreinigungen.
An einem Haken findet Georg Augenbinde und Knebel. Flüchtig streift sein Blick das Mundstück, bevor er daran vorbeigreift.
Von Anfang an war klar, dass er das Schreien braucht. Das Gefühl seiner wundgebrüllten Kehle, der Widerhall in seinen Ohren ist existenziell für den Erfolg der Sache. Es ist ihm
in den nächsten Stunden strikt verboten, zu sprechen - aber niemand hielt ihn davon ab, sich freizuschreien.
Andächtig kehrt Georg in die Mitte des Zimmers zurück, kniet sich auf den Boden und legt sich mit erstaunlich sicherer Hand den dunklen Stoff über die Lider. Es wird für eine
Weile der letzte Handgriff sein, den er bewusst tut.
Sogar das Ausatmen klingt erwartungsvoll, als er sich auf die Fersen setzt. Bald darauf geht die Musik aus, und sein Warten beginnt.
In diese Minuten der Ruhe - den Kopf gesenkt, die Hände flach auf den Schenkeln - hat Georg endlich Muße, sich zu besinnen. Auf das, was er ist und sein möchte. Er hat
Zeit, sich selbst dankbar zu sein. Für den Entschluss, seine Neigungen zu hinterfragen. Für den Mut, sie anzunehmen. Er ist grenzenlos froh, dass er gewagt hat, sich zu erforschen. Dass
er schnell erkennen konnte, was er braucht und will.
Nicht immer sehnt er sich danach, ausgeliefert zu sein. Nur manchmal schreit alles in ihm, er möge sich ganz und gar in fremde und doch vertrauenswürdige Hände begeben, damit sie
ihm Freiheit schenken.
Es sind die Phasen unerträglicher Überreizung, bar jeden Mittels zur Abwehr. Dann, wenn ihm alles aus den Händen zu gleiten scheint, braucht er das Gefühl, nichts tun zu
müssen. Loslassen zu können, sich auf gänzlich andere Dinge ausrichten zu dürfen. Fühlen in einer Intensität, die die Notwendigkeit des Denkens unerheblich macht.
Fühlen, bis nichts andere mehr geht. Weit hinaus über körperliche Grenzen.
Ein Manifest des Gegenschmerzes.
Georg muss sich zwingen, nicht an den Tag im Büro zu denken. Selbst jetzt scheinen ihm seine dienstlichen Zielvereinbarungen wie gieriges Geschmeiß im Nacken zu sitzen. Es kostet
Mühe, sich nicht davon okkupieren zu lassen.
Die Erinnerungen an das erste Mal helfen.
Vor seinem inneren Auge sieht er sich selbst beim Recherchieren passender Internetseiten. Aller Offenheit gegenüber den eigenen Bedürfnissen zum Trotz brächte er es niemals
fertig, mit jemandem über diese zu sprechen. Aber der Club macht es seinen Gästen leicht - und so wird jedes Detail, jeder Wunsch und jede Grenze per E-Mail abgestimmt.
Es ist sein vierter Besuch heute. Noch nie hat Georg eine Silbe mit dem Menschen gewechselt, der gleich zu ihm kommen wird. Während der Session wird nicht gesprochen.
Erste Zeichen der Erregung machen sich in seinem Schritt bemerkbar, als Georg daran denkt, was ihm in diesem Raum bereits widerfahren ist. Seine Hände wollen zugreifen, prüfen, was
sich da regt. Es ist ihm nicht erlaubt. Stattdessen konzentriert er sich auf sein Herz, das relativ ruhig in ihm klopft. Auf die Struktur des Bodens unter seinen Schienbeinen, auf die
Raumtemperatur. Auf die Ruhe um ihn herum und das Gefühl an seinen
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